(Seminar Probst-Effah, Sommersemester 2008)
(Das Skript, das einige ausgewählte Bereiche der „Weltmusik“ thematisiert,
basiert inhaltlich auf einem Teil der im Folgenden genannten Literatur sowie
Beiträgen zum Seminar.)
Exotische Elemente in Kompositionen von Claude Debussy
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Den Begriff „Weltmusik“
hat der Musiktheoretiker Georg Capellen (1869–1934) 1906 für ein Phänomen
kreiert, das in allen Epochen der Musikgeschichte existierte: für das Nebeneinander
und / oder die Synthese verschiedener Musikkulturen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts,
als viele Komponisten und Musiktheoretiker an der Entwicklungsfähigkeit und
Unerschöpflichkeit der Grundlagen westeuropäischer Musikkultur zweifelten,
dachte Capellen an die Möglichkeit einer Regeneration der abendländischen
Musik durch Synthesen mit exotischen Stilelementen. „Durch diese Vermählung
von Orient und Okzident gelangen wir zu dem neuen exotischen Musikstil, zur
‚Weltmusik‘“ (zit. nach Fritsch 1981, S. 12).
Das Nebeneinander
und die Vermischungen verschiedener Stile sind nicht erst die Errungenschaft
unseres medialen Zeitalters. Sie gab es auch in der Vergangenheit. So berichtet
der Musikethnologe Curt Sachs über Orchester am chinesischen Hof vor mehr
als 1500 Jahren, deren Musiker aus von China eroberten asiatischen Gebieten
(z.B. Kaoli, Indien, Buchara, Ostturkestan u.a.) kamen.[1]
Schon im 18. Jahrhundert vor Chr. wurden fremde Instrumente und Musiker nach
Ägypten importiert. Viele ähnliche Beispiele lassen sich nennen: z.B. der
arabische Einfluss im Spanien des 10. Jahrhunderts (vgl. Gradenwitz 1977).
Durch den Ausbau
von Handelsbeziehungen, durch Berichte von Missionaren und Reiseberichte
wuchs im 16. Jahrhundert das Interesse an außereuropäischen Kulturen. In
Frankreich entstand die Türken-Mode. Am bekanntesten aus dieser Zeit ist
die Türkenszene im 1670 von Moliere und Lully verfassten „Bourgeois Gentilhomme“.
– In der Zeit des Barock und Rokoko gab es eine China-Mode. Es entstand
eine Reihe von Theaterstücken und Opern mit „chinesischen“ Elementen, wobei
man jedoch den größten Wert auf ostasiatisch wirkende Ausstattungen und Kostüme
legte, während die Musik sich kaum an chinesischen Vorbildern orientierte.
1730 nannte Francois Couperin das vorletzte Stück seiner Clavecin-Suite „Les
Chinois“, wobei allerdings ohne Kenntnis des Titels kein Gedanke an chinesische
Musik aufkäme. Die erste Aufzeichnung chinesischer Musik in Europa erschien
1735 in einer umfangreichen Beschreibung Chinas durch den Pater Jean Baptiste
du Halde in Paris, der hier fünf Melodien mit dem folgenden Kommentar wiedergibt:
„Wenn man ihnen (den Chinesen) Glauben schenken will, so waren sie die ersten
Erfinder der Musik, und sie rühmen sich, dass sie diese früher zu höchster
Vollendung entwickelt haben: wenn es wahr ist, was sie sagen, müssen sie
stark degeneriert sein, denn gegenwärtig ist sie so unvollkommen, dass sie
kaum den Namen Musik verdient, wie man aus einigen ihrer von mir notierten
Melodien urteilen kann“ (zit. nach Gradenwitz 1977,
S. 162). Eine der Melodien
nahm Jean-Jacques Rousseau 1767 in sein „Dictionnaire de Musique“ in etwas
abgewandelter Form auf. Carl Maria von Weber verarbeitete diese „echt chinesische
Nationalmelodie“ in seiner Ouvertüre zu Schillers „Turandot“ (1816), und
Paul Hindemith wiederum verwendete sie 1943 im Scherzo seiner „Sinfonischen
Metamorphosen“ von Themen Carl Maria von Webers.
Im 19. Jahrhundert
war die Rezeption außereuropäischer Musik geprägt von Orientsehnsucht und
Zigeunerromantik. Einen entscheidenden Anstoß für den romantischen Exotismus
in der Musik gab der französische Komponist Félicien David, der 1833 mit
einem Klavier durch die vorderasiatische Wüste zog. 1844 wurde seine Sinfonie
„Le Désert“ (Die Wüste) uraufgeführt; sie regte mehrere französische Komponisten
zu Kompositionen mit orientalischem Flair an (Gradenwitz 1977, S. 27).
Auf der Pariser
Weltausstellung von 1889 waren zahlreiche orientalische Tanzgruppen und Ensembles
zu hören; vor allem ein javanisches Gamelanorchester übte auf Claude Debussy
einen nachhaltigen Einfluss aus. Auch die Musik Spaniens faszinierte Debussy
und Ravel.
Das Verhältnis
zur außereuropäischen Musik wandelte sich entscheidend um 1900 mit der Etablierung
der Vergleichenden Musikwissenschaft bzw. Musikethnologie als einer wissenschaftlichen
Disziplin. Großen Einfluss hatte dabei die Entwicklung des Phonographen durch
Charles Gros und Thomas A. Edison 1877, der es ermöglichte, an Ort und Stelle
Musik aufzuzeichnen; 1989 benutzte der amerikanische Anthropologe Walter
Fewkes erstmals einen solchen Apparat zur Aufzeichnung von Indianerliedern.
In der Folgezeit entstanden Phonogramm-Archive, in denen musikethnologische
Aufnahmen auf Walzen aufbewahrt und studiert wurden. Das bedeutendste Archiv
dieser Art wurde in Berlin von Carl Stumpf und Otto Abraham gegründet.
Wichtig für die
Musikethnologie wurde auch die Entwicklung des Cent-Systems durch den Philologen
und Mathematiker A.J. Ellis: Dieses System teilt die Oktave in 1200 Cents
ein, d. h. der Abstand zwischen zwei Halbtönen beträgt 100 Cents. Durch dieses
Messsystem wurde die genaue Beschreibung aller vom europäischen Tonsystem
abweichenden Intervalle möglich.
Der Begriff „Weltmusik“
bzw. „World Music“ eroberte seit den sechziger und siebziger Jahren des
20. Jahrhunderts nach und nach die verschiedenen Musiksparten. Der Reiz exotischer
Klänge aus Japan, Indien, Südamerika, Afrika usw. wurde damals für den Jazz
entdeckt: „Jazz meets the World“ hieß eine Schallplattenreihe, die Joachim-Ernst
Berendt produzierte. Karlheinz Stockhausen integrierte in seiner Komposition
„Telemusik“ aus dem Jahr 1966 u.a. Aufnahmen japanischer, afrikanischer,
brasilianischer, spanischer Musik, insgesamt etwa 25 verschiedene Ausschnitte
aus dem musikalischen Reservoir verschiedenster Völker, in die elektronische
Klangwelt. „Telemusik“ war die musikalische Verwirklichung dessen, was Stockhausen
1973 in seinem Aufsatz „Weltmusik“ verbalisierte. Auf dem Sektor der Pop-Musik
engagierte sich u.a. Peter Gabriel, einst Mitglied der Gruppe „Genesis“,
für die Einbeziehung exotischer Musik in westliche Pop-Konzerte. 1982
organisierte er in London das internationale Festival „World of Music, Arts
and Dance“ (WOMAD) (Graves / Schmidt–Joos 1990, S. 299). Auch die Folkszene
hat ihren Wahrnehmungshorizont längst über den Bereich angloamerikanischer
und irischer Vorbilder ausgedehnt, und sie nennt nun oft „Weltmusik“, was
früher „Folklore“ oder „Folk“ hieß.
Es scheint gelegentlich,
als ließen sich unter den Begriff Weltmusik jede beliebige Musik, ja sogar
Sprachen und Geräusche subsumieren. Unter dem Titel „Welthören – Das gigantische
Hörpanorama unseres Planeten“ bietet der 2001 Versand eine Montage akustischer
Elemente aus den verschiedensten Weltgegenden an; Klangquellen sind „Naturgeräusche,
Rufe, Gesänge, Gebete und ein Indio im Kanu an der Amazonasmündung, Wildbäche
im Himalaja und Venedig bei Nacht. Der Markt in Neapel, in London und in
Kalkutta. Die Musik in Togo, auf Bali, in Europa oder in China. Die Klangfarbe
von Paris, von Venedig oder Katmandu“ (2001 Versand,
Merkheft Nr. 143, September / Oktober 1996, S. 147). Joachim-Ernst Berendt
kombiniert in seinem Hörwerk „Die Welt ist Klang. Nada Brahma“ „Klänge wachsender
Pflanzen, der Tiefsee, ferner Sterne und Pulsare“ mit Musik von tibetischen
Mönchen, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, John Coltrane, Pink
Floyd, Carlos Santana, Ali Akbar Khan, mit gregorianischen Chorälen, brasilianischen
Macumba-Ritualen, Musik aus Joseph Haydns „Schöpfung“ u.v.a.
Nicht das akustische
oder musikalische Einzelereignis macht in diesen Fällen Weltmusik aus, sondern
die Kombination vieler teils verwandter, teils heterogener akustischer und
musikalischer Elemente. Dabei werden weiteste räumliche Distanzen durchmessen,
es wird die zeitliche Kluft von Jahrhunderten überwunden. Auf „psychomusikalischen
Expeditionen“ werden sogar die außerirdischen Klänge reinkarnierter Musiker
hörbar. Gegenüber herkömmlichen Kategorisierungen musikalischer Stilrichtungen
oder Gattungen verhält sich Weltmusik respektlos, sie vermischt die verschiedenartigsten
Genres und ignoriert die gewohnte Aufteilung des musikalischen Universums
in getrennte Sparten wie Volks-, Popular- und E-Musik. Aber ihre Offenheit
ist nicht grenzenlos. Vehement betont sie ihre Gegnerschaft zu „aufdringlicher,
oberflächlicher, kommerzorientierter, kurzlebig modischer Musik“.[2] Das musikalisch und akustisch Disparate wird
oft zu einer übergeordneten, ideellen Einheit verbunden. Dabei ist die Vorliebe
für das, was nicht von der westlichen Zivilisation korrumpiert zu sein scheint,
offensichtlich: z.B. für die Lebensformen sogenannter Naturvölker, die Dritte
Welt, für kontemplative Rituale und Religionen usw. Meditative Weltmusik
basiert auf dem Glauben an eine naturgegebene, präexistente Harmonie des Kosmos.
Sie reaktiviert alte, in der griechischen Antike wurzelnde Ideen von der
Übereinstimmung zwischen Kosmos und Musik, die sie durch neue wissenschaftliche
Forschungen bestätigt sieht. Ihre Utopien stützen sich auf die Vorstellung
von einer intakten vergangenen Welt, die im Laufe der historische Entwicklung
Europas zerfallen sei: „Früher lebten die Menschen in unmittelbarer Harmonie
mit der Mutter Erde. Mit Ritualen, Liedern und Tänzen dankten sie für die
ihnen bezeigte Güte und Großzügigkeit. Das
blieb so für Tausende von Jahren. Bis Maschinen aufkamen, Industrialisierung,
der Wahnsinn, natürliche Ressourcen um jeden Preis für ‚Gewinn‘ auszubeuten.“[3]
In unserem gegenwärtigen Zustand der Vereinzelung, Entwurzelung und des Identitätsverlusts
wird nach dieser Auffassung die Harmonie von Universum und Musik nicht –
nicht mehr – wahrgenommen. Doch es gibt die Möglichkeit einer inneren Umkehr,
wobei Musik als therapeutisches Mittel fungiert. Rhythmischen Archetypen
werden heilende Kräfte zugeschrieben; als Übermittler eines „Urwissens“,
so glauben einige, könnten sie – tiefer als Sprache – in das Unbewusste eindringen
(Reinhard Flatischler). Oder es wird die besondere Wirkung des Obertongesangs
propagiert, einer Gesangstechnik mit weit zurückliegenden historischen Wurzeln,
die in den letzten Jahren von einigen Komponisten und Interpreten (u.a. Michael
Vetter) wiederentdeckt wurde.
Weltmusik hat sehr
verschiedenartige Erscheinungsformen: Bei ihrem Versuch, das komplexe Phänomen
zu definieren, unterscheidet Ingrid Fritsch in einem 1981 veröffentlichten
Aufsatz u.a. zwei Grundprinzipien: Weltmusik einerseits als das Nebeneinander
sämtlicher Musikkulturen, andererseits als Vermischung verschiedener Stilelemente
zu heterogenen Synthesen und Symbiosen (Fritsch 1981, S. 22f.). Ähnlich stellte
Rolf Wilh. Brednich in einem in der Zeitschrift „Musikblatt“ veröffentlichten
Diskussionsbeitrag aus dem Jahr 1990 zwei entgegengesetzte Entwicklungslinien
der Weltmusik heraus: die eine folge dem Additionsprinzip, das die Vielfalt
und Eigenständigkeit der Musikkulturen betone, die andere dem Verschmelzungsprinzip,
das zu eine Homogenisierung der Kulturen tendiere
(Musikblatt 2/90, S. 38). Die erstgenannte der Weltmusik-Konzeptionen
– die „additive“ – zielt weniger auf das Umformen, die Angleichung oder
Synthese verschiedener Kulturelemente als auf das Sammeln, Bewahren und Erforschen
des vorhandenen musikalischen Bestandes. Beeinflusst von der Musikethnologie,
hat sie eine wissenschaftliche Orientierung, indem sie sich den traditionellen
– insbesondere den bereits untergehenden und nur noch relikthaft vorhandenen
– Kulturen zuwendet. Sie engagiert sich, unterstützt von einem Teil der (oft
als Vernichter von Tradition gescholtenen) massenmedialen Industrie, für
die Bewahrung des musikalischen „Artenreichtums“. Unter dem Titel „Musik
bedrohter Völker“ („Voices of Forgotten Worlds“) bot z.B. in den 1990er Jahren
der Zweitausendeins Versand 2 CDs mit Obertongesängen aus Tuva, zeremonieller
Musik aus Tibet, Westafrika und Bali, Trommelgesang der Inuit u.a. sowie
ein 96 Seiten umfassendes Buch an, das mit Farbfotos und Texten über die
Situation aussterbender ethnischer Gruppen und deren Musik informiert.
Doch impliziert
der Begriff Weltmusik nicht nur ein retrospektives, sondern auch ein progressives
Moment: Er meint gegenwärtige und zukünftige Veränderungen. Er hat sogar
eine Tendenz zur Utopie, indem er die Überwindung gewohnter Grenzen und
Weltoffenheit signalisiert. Schon der Begriff „Weltliteratur“, der erstmals
in einer Tagebucheintragung Johann Wolfgang von Goethes im Jahr 1827 belegt
ist (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Nachdruck München
1984, Bd. 28, Sp. 1644), meinte die Verflechtung der europäischen Nationalliteraturen
infolge einer zunehmenden räumlichen Annäherung. Durch die Technik unseres
Jahrhunderts sind die Distanzen der Goethezeit fast zur Bedeutungslosigkeit
geschrumpft. Insbesondere die Massenmedien haben bewirkt, dass der geistige
Horizont und die Chancen eines kulturellen Austauschs in der Gegenwart grenzenlos
und universal sind – zumindest potentiell.
In unserem Zeitalter
globaler Flucht- und Migrationsbewegungen erfährt die Musik der verschiedensten
Kulturen eine bisher ungekannte Verbreitung. Der Musikforscher und Musikkritiker
Peter Gradenwitz nennt das Beispiel Israel, vor allem im 20. Jahrhundert
Refugium für Menschen aus aller Welt, wo west- und osteuropäische, asiatische,
nordafrikanische und amerikanische Elemente in einer „Weltmusik“ zusammentrafen
(Gradenwitz 1963, S. 183). Die meisten
musikgeschichtlichen Darstellungen sind eurozentrisch, d.h. ihr Blick ist
auf die musikgeschichtlich relevanten Fakten und Ereignisse der abendländischen
Kultur gerichtet; die Musik der „übrigen“ Welt wird pauschal „außereuropäisch“
genannt. In seiner Untersuchung „Musik zwischen Orient und Okzident“ (Gradenwitz
1977) möchte Gradenwitz demgegenüber einen Ansatzpunkt für eine universale
Musikgeschichte liefern, indem er die Wechselwirkungen, die Gemeinsamkeiten
und Gegensätzlichkeiten zwischen verschiedenen Zivilisationen und Kulturen
untersucht. Seine Darstellung umfasst den großen Zeitraum von der Antike
bis zum 20. Jahrhundert. Den Begriff „Orient“ fasst er sehr weit: Er meint
damit nicht nur die islamischen Länder des Nahen Ostens und Nordafrika, sondern
auch den Mittleren und Fernen Osten. Als „Abendland“ bzw. „Okzident“ werden
die westeuropäischen Länder bezeichnet, wobei der Schwerpunkt auf der deutschen,
italienischen und französischen Musikkultur liegt. Gradenwitz weist viele
kulturelle Wechselbeziehungen bereits in der Antike und im Mittelalter nach;
auch besonders in der Renaissance: Damals gab es das Ideal des kosmopolitisch
orientierten „Uomo universale“, der vielseitig gebildet war, Reisen unternahm,
außer der eigenen fremde Sprachen beherrschte und der sich daher nirgendwo
fremd fühlte.
In unserer Gegenwart
wird „die Vielfalt der Kulturen in jedem Wohnviertel, in jedem geographisch
noch so abgelegenen Dorf im täglichen Leben sichtbar und spürbar“ (Erpenbeck
1996, S. 36). Die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation hat
die Perspektive innerhalb der ethnologischen und volkskundlichen Forschung
verändert. Unterteilte die Musikalische Völkerkunde bisher die Welt in verschiedene
nebeneinander existierende ethnische Gruppen und waren ihre Untersuchungsobjekte
vorzugsweise lokal begrenzte Traditionen in entfernten Regionen, so konzentrierte
sich die ältere Volksliedforschung bzw. Musikalische Volkskunde auf heimische
volksmusikalische Überlieferungen. Die multinationale und multikulturelle
Zusammensetzung der Gesellschaft in der Gegenwart verlangt eine Horizontverschiebung
in beiden wissenschaftlichen Disziplinen und deren Kooperation. Einige Ethnologen
und Volkskundler haben inzwischen ihr Augenmerk auf Erscheinungsformen ausländischer
Musikkultur im eigenen Land gerichtet. Seit den siebziger Jahren nahm die
Musikethnologie an der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Max
Peter Baumann Kontakt mit in Berlin lebenden Musikern unterschiedlicher Kulturen
auf und untersuchte deren Musik. Darauf folgten in den achtziger Jahren ähnliche
Projekte, die sich mit türkischer Musik in Berlin befassten. 1988/89 wurde
am Internationalen Institut für Vergleichende Musikstudien und Dokumentation
(IICMSD) eine Untersuchung der internationalen Berliner Musikszene durchgeführt.
(Brandeis
/ Brandes / Dunkel / Lee 1990). Im Rahmen eines
kleiner dimensionierten Projekts des Instituts für Musikalische Volkskunde
der Universität zu Köln untersuchte und dokumentierte Raimund Hegewald 1987
die Aktivitäten von ausländischen Musik- und Folkloretanzgruppen verschiedener
Nationalitäten im Raum Köln (Hegewald 1992, S.
74ff.). In allen diesen Fällen gilt das Interesse kulturellen Traditionen,
die aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und in einer veränderten
Umgebung Transformationsprozessen unterworfen sind. Der Begriff Weltmusik
taucht m. W. im Zusammenhang dieser Projekte zwar nicht auf, in der Bedeutung
einer Synthese verschiedener Musikkulturen erscheint mir seine Anwendung
dennoch zutreffend.
Am wenigsten kann
sich die Pädagogik gegenüber der veränderten gesellschaftlichen Realität
verschließen. Die wachsende Zahl ausländischer Kinder verlangt adäquate Formen
und Inhalte der schulischen und außerschulischen Musikausbildung. Am Ende
der achtziger Jahre fand das musikpädagogische Konzept der „Weltmusik“ bzw.
„world music“ Eingang in die Niederlande. Die Amsterdam Music School richtete
1990 eine Abteilung „Weltmusik“ ein, die den Schülern jeglicher ethnischen
und nationalen Zugehörigkeit einen neuen, globalen Zugang zu verschiedenen
Musikkulturen eröffnete. In diesem Zusammenhang wird „Weltmusik“ verstanden
als ein „Phänomen musikalischer Instrumente, Genres und Stile, welche sich
außerhalb der eigenen Kultur verfestigen“ (Schippers 1996, S. 59). Die multikulturelle
Gesellschaft wird Anlass zur Entwicklung einer „General Music Education“,
die nicht im Stadium der Multikulturalität verharren möchte, sondern darüber
hinaus auf die Integration und Fusion heterogener Elemente zu neuen, „transkulturellen“
Symbiosen zielt. Oft wird der Einwand geäußert, Musik sei nur authentisch
in ihrer originalen Gestalt und innerhalb ihres ursprünglichen Kontextes.
Demgegenüber betont Huib Schippers, Leiter der Amsterdam Music School, die
Tatsache gegenwärtiger gesellschaftlicher und kultureller Mobilität, die Veränderungen
und Vermischungen überkommener Musikkulturen unvermeidbar und sogar wünschenswert
mache: „The truth is that most musics are in a state of constant change,
due to migrations and social and cultural developments. And
the resulting changes are an organic part of the ongoing process of loss
and renewal that characterizes living traditions” (Schippers 1996, S. 56).
Die Entwicklung
neuer Identitäten, bei der manche traditionellen Elemente untergehen, bedeutet
nicht nur einen Verlust, sondern auch die Chance, sich aus konventionellen
Fesseln zu befreien und Neuland zu entdecken. Der japanischen Musikerin Makuso
Nakase, so wird berichtet, gefällt es an ihrem Leben in Berlin, „dass sie
in dieser Stadt ohne übertriebene Rücksicht auf die Tradition zu ganz eigenen
klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten sowohl im instrumentalen shamisen-Spiel
als auch in der vokalen Vortragsweise des nagauta-Gesangs gelangen kann“
(Brandeis / Brandes / Dunkel / Lee 1990, Teil I/II, S. 102). Bei seiner Untersuchung
der türkischen Musikszene Berlins hat Bernhard Bremberger beobachtet, wie
sich im Umgang nicht-türkischer Musiker mit einem zunächst fremden musikalischen
Idiom allmählich Vertrautheit entwickelte. „Ich habe nachvollzogen, wie
sich Musiker innerhalb der für sie ursprünglich fremden türkischen Musik
freier und selbständiger, d.h. kreativ bewegen“ (Bremberger 1996, S. 271).
Beim Prozess der Akkulturation werden stereotype Reaktionsmuster und Vorurteilsstrukturen
in Frage gestellt, und so öffnet sich das Bewusstsein für neue Eindrücke.
Aus seinen Erfahrungen in einem interkulturellen Singkreis des Projekts „Windrose“
gewann Karl Adamek die Erkenntnis, das die musikalische Gestaltung multikultureller
Begegnung von uns fordere, „die Ketten des eigenen – oft unauffällig bornierten
– Bewusstseins zu sprengen in der direkten, hautnahen Begegnung mit dem
anderen“ (Adamek 1996, S. 256).
Kritiker behaupten,
dass der Ethno-Pop, eine der Spielarten von Weltmusik, die kulturelle Vielfalt
in einem besonderen Maß bedrohe und die Entwicklung zu einer kommerzialisierten
musikalischen Monokultur beschleunige. Dieser Vorwurf wird der Popmusik insgesamt
häufig gemacht: die tatsächliche „Weltmusik“ sei gegenwärtig eine massenhaft
produzierte Unterhaltungsmusik, die die Welt beherrsche, indem sie überall
zu hören sei. Diese Variante einer Weltmusik wäre das Produkt des westlichen
Kulturmonopols. Gegenüber diesem Monopol betonen viele Weltmusiker ihre Gegnerschaft.
Doch ist ihre Horrorvision von einer zukünftigen weltweiten musikalischen
Einheitskultur als negative Utopie vermutlich ähnlich irreal wie Karlheinz
Stockhausens positiv gemeinte Utopie von einer gemeinsamen Kultur aller „Erdlinge“.
Die Vermischung verschiedener
Stile ist nicht erst die Errungenschaft unseres medialen Zeitalters. Sie
gab es schon lange vorher. Durch den Ausbau von Handelsbeziehungen, durch
Reiseberichte und die Berichte von Missionaren wuchs im 16. Jahrhundert das
Interesse an außereuropäischen Kulturen.
Starke orientalische Einflüsse
gab es im Zeitalter der Renaissance in Venedig. Insbesondere in der venezianischen
Oper waren exotische Sujets geläufig. Das Fremdländische wurde in Komödien
der Zeit oft parodistisch dargestellt. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts bevölkerte
sich die Opernbühne mit Afrikanern, Indianern, Chinesen, Türken, Indern,
Persern. Einen Höhepunkt erlebte die Opern-Exotik des 18. Jahrhunderts in
Jean-Philippe Rameaus Ballettoper „Les Indes Galantes“, die 1735 auf der
Pariser Opernbühne aufgeführt wurde und bis 1773 zahllose Wiederholungen
und Umänderungen erfuhr. Die exotischen Kostüme wurden nicht originalgetreu
auf die Bühne gebracht, sondern dem westeuropäischen Zeitstil angepasst (Gradenwitz
1977, S. 185).
Wichtig für unsere Kunstmusik
wurde der „türkische“ Stil. Das hatte zum Teil politische Ursachen. Das Osmanische
Reich war jahrhundertelang die dominierende Macht in Europa, Asien und Afrika.
Die Herrschaft der Osmanen dauerte von 1300–1922. Die Türken drangen in Europa
bis Wien vor. Die erste Belagerung Wiens fand 1529 statt. In der Mitte des
17. Jahrhunderts war das Osmanische Reich das größte Reich der ganzen Welt.
Sein Gebiet, das sich in drei Kontinente erstreckte, war fast so groß wie
die Vereinigten Staaten von Amerika.
Schon lange vor den Türkenmusiken
Mozarts, z.B. dem berühmten „alla turca“ in der A-Dur-Klaviersonate K.V.
331, gab es in Bühnenwerken die Darstellung von Türken (s. Gradenwitz 1977,
S. 177ff.). Zur Zeit der Einnahme Konstantinopels erschien in Nürnberg das
erste bekannte Theaterstück mit türkischen Figuren, ein Fastnachtsspiel von
Hans Rosenplüt (ca. 1400–1460), der als der älteste Vertreter des Meistergesangs
und der volkstümlichen Fastnachtsspiele von Nürnberg gilt. In Dramen des
16. und frühen 17. Jahrhunderts erschienen die Türken als grausam, dann jedoch
gewannen das Märchenhafte und der Zauber der orientalischen Welt die Oberhand;
aus dem „wilden Türken“ wurde der orientalische Weise.
Seit der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts entstanden in Frankreich viele Türkendramen. Reisende
französische Theatertruppen machten sie auch in anderen Ländern bekannt.
Die Kenntnis der türkischen Welt war in Frankreich besonders verbreitet.
Im französischen Ballet de cour (1580–1660), prachtvoll ausgestatteten Balletten
mit Vokal- und Instrumentalmusik, die vornehmlich am Hof der französischen
Könige aufgeführt wurden und in denen anfänglich die höfische Gesellschaft,
insbesondere auch Ludwig XIV., mitwirkten, traten u. a. Türken und „Mohren“
auf (Gradenwitz 1977, S. 184). Die Charakterisierung der „exotischen“ Typen
soll sehr vage gewesen sein.
Von der Musik der frühen
Zeit ist wenig erhalten, „und es läßt sich denken, daß auch das musikalische
exotische Kolorit keinen Anspruch auf Authentizität machte“ (Gradenwitz 1977,
S. 185). Musikalische Exotismen bemühten
sich im allgemeinen nicht darum, „authentisch“ zu sein. So kann man über
sie nicht nach ethnographischen Kriterien urteilen. Wesentlich war es – so
Dahlhaus (Dahlhaus 1980) –, dass musikalische Mittel angewendet wurden, die
zwar von den Normen damaliger europäischer Kunstmusik abwichen, die aber
dennoch in den Rahmen europäischen Komponierens integrierbar blieben (Dahlhaus
spricht von einer „integrierbaren Regelwidrigkeit“).
Kostümzeichner, Bühnenbildner,
Ballettmeister und Komponisten waren sicherlich mit den exotischen Vorbildern
besser vertraut, als es ihre Nachbildungen vermuten lassen. Gesandtschaften
und Kaufleute aus vielen Ländern kamen an die Höfe und in die Städte Westeuropas,
und europäische Reisende besuchten die fremden Länder. Seit 1535 lebten französische
Diplomaten am Hof zu Konstantinopel. Es kamen auch Türken nach Frankreich;
bei Hofe und in der Bevölkerung erregten sie großes Aufsehen.
Es heißt, dass König Ludwig
XIV. nach dem Anblick türkischer Würdenträger sich eine Ballettkomödie mit
türkischen Szenen für seine Hoffeste wünschte. Der Dichter Molière (1622–1673)
und der Komponist Jean-Baptiste Lully (1632–1687) griffen die Idee des Königs
im „Bourgeois gentilhomme“ („Der Bürger als Edelmann“; s. Gradenwitz 1977,
S. 186ff.) auf. Vom Chevalier d’Arvieux ließen sie sich ausführlich über
Zeremonien bei der Aufnahme von Novizen in einen Derwischorden, türkischen
Lebensweisen, türkische Sprache, Musik usw. berichten.
Zum Inhalt der türkischen
Szenen im vierten Aufzug: Die Hauptgestalt des Stückes ist M. Jourdain: der
„Bürger als Edelmann“, d. h. der Bürger, der den Lebensgewohnheiten des Adels
nacheifert. Cléonte möchte Jourdains Tochter heiraten, doch dem erscheint
der Schwiegersohn nicht standesgemäß. In den „Türkenszenen“ nun tritt Cléonte
als vermeintlicher Sohn des „Grand Turc“ auf, und M. Jourdain wird von einem
vermeintlichen Mufti zum Mamamouchi geweiht.
Der Text Molières enthält
türkische Lautmalereien, aber auch türkische Wörter und Sätze. Die Parodie
der Derwischriten, so wird berichtet, empfanden Türken, die späteren Vorstellungen
des „Bourgeois gentilhomme“ beiwohnten, als beleidigend. Die exotischen Ausdrucksmittel,
die in diesem Stück angewendet wurden, wurden für eine ganze Reihe von „Türkenmusiken“
in Ballett, Oper und Instrumentalmusik Vorbild (Gradenwitz 1977, S. 195).
Laut Lullys Anweisungen
in der Partitur tanzen und singen „die Türken“ zur Begleitung verschiedener
Instrumente „à la turquesque“: Die Instrumente sind nicht näher bezeichnet,
doch kann man annehmen, dass an dieser Stelle Instrumente gespielt wurden,
die damals sehr allgemein und wenig spezifisch als „exotisch“ galten: z.B.
Schellentrommel, Becken und Triangel, die Instrumente, die auf allen Darstellungen
von „Türkenbanden“ zu sehen und als Janitscharenmusik bekannt sind; die koloristischen
Effekte waren nicht in der Partitur notiert.
In Frankreich häuften
sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die Reisebeschreibungen aus fernen Ländern
und die Übersetzungen orientalischer Märchen und Romane. Zwischen 1704–1708
erschien die französische Fassung der Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“
von Antoine Galland, der die erzählten Geschichten selbst in den Kaffeehäusern
Konstantinopels gehört und aufgezeichnet hatte (Gradenwitz 1977, S. 28).
Es erschienen mehrere aufklärerische Schriften und Studien von französischen
Schriftstellern, die großen Einfluss hatten: z.B. die „Lettres persanes“
des Schriftstellers und Staatstheoretikers Montesquieu (1721). Montesquieu
lässt zwei Perser, Usbek und Rica, nach Paris kommen und dort Sitten und
Gebräuche mit denen ihrer Heimat vergleichen. Sie erhalten regelmäßig Briefe
von ihren Familien, in denen das Leben in ihrem Land, die Serails und Haremsdamen
u.v.a. geschildert werden. Alles dies dient nicht nur der Beschreibung des
Exotischen, sondern auch besonders der Kritik der französischen Gesellschaft
(Gradenwitz 1977, S. 210f.).
In der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts erschienen außer phantastischen auch historisch fundierte,
wissenschaftliche Darstellungen von Geschichte und Kultur. Darin gab es auch
u.a. Beschreibungen der Musik und der Musikinstrumente. Auf die Authentizität
der aufgezeichneten Melodien kann man sich kaum verlassen: Es fehlte den
Autoren die Kenntnis der nicht nach europäischen Systemen gebildeten Skalen
und Töne. Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) z.B. berichtet
über eine Begebenheit am Berliner Hof: Als man dort dem türkischen Gesandten
zu Ehren ein türkisches Konzert aufführte, schüttelte der unwillig den Kopf
und meinte, das sei keine türkische Musik. Daraufhin nahm Friedrich der Große
Türken in seine Dienste und führte türkische Musik bei einigen seiner Regimenter
ein (Gradenwitz 1977, S. 215).
Auch in der venezianischen
Oper traten im 17. Jahrhundert gelegentlich Türken auf. (Türken-Szenen teilt
z. B. Hellmuth Christian Wolff in seinem Buch „Die Venezianische Oper in
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts“, Berlin 1937, S. 23 und 89 f. mit.)
Türken erschienen auch
auf der deutschen Opernbühne. In Hamburg entstand ein Opernlibretto mit dem
Titel „Der glückliche Groß-Vezier Cara Mustapha“, dem bald darauf ein zweiter
Teil mit dem Titel „Der unglückliche Groß-Vezier Cara Mustapha“ folgte (Gradenwitz
1977, S. 187). Die Musik zu diesen Stücken von Johann Wolfgang Franck (ca.
1641–1696) scheint verlorengegangen zu sein; es ist aber überliefert, dass
„Janitscharenchöre“ vorkamen. Die Libretti hatten wahrscheinlich einen –
wenn auch nicht realen – Bezug zu der historischen Gestalt des osmanischen
Großwesirs Kara Mustafa, der während des Großen Türkenkrieges (1683–1699)
1683 Wien belagerte – es war die zweite Belagerung Wiens durch die Türken,
die mit der Niederlage der Türken in der Schlacht am Kahlenberg im September
1683 endete.
Es war türkische Militärmusik, die damals
in Europa bekannt war, türkische Kunst- und Volksmusik hingegen waren unbekannt.
Diese Militärmusik wurde in Europa „Janitscharenmusik“ genannt. (Die türkische
Bezeichnung dafür ist „mehter“.) Janitscharenmusik war u.a. in Wien zu hören,
und es ist anzunehmen, dass Komponisten wie Haydn und Mozart solche Musik
aus ihrer unmittelbaren Umgebung kannten.
„Janitscharen“ hieß die
Kerntruppe des osmanischen Sultans in der Zeit vom 14. Jahrhundert bis 1826.
(1826 löste der Sultan die Truppe auf, weil sie ihm militärisch zu mächtig
geworden schien, und er verbot auch ihre Musik.) Die Janitscharenmusik war
die Feldmusik dieser Truppe, die mit folgenden Instrumenten besetzt war:
große und kleine Trommel, Becken, Pauke, Tamburin, Triangel, Schellenbaum.
Die Janitscharenmusik wurde durch zahlreiche Kriege der Türken in Europa
bekannt. Das Instrumentarium fand zu Beginn des 18. Jahrhunderts Eingang
in die europäischen Militärorchester. Eine Reihe europäischer Fürsten hielt
sich authentische türkische Orchester. Das gemeinsame Kennzeichen aller dieser
Kapellen des 17. und 18. Jahrhunderts war die – als typisch türkisch geltende
– Zusammenstellung von Schlaginstrumenten: Becken, Triangel, Tamburin, tiefe
Trommel, Glöckchen oder Schellen, die den Klang des türkischen Schellenbaums
(Halbmond mit Schellen) nachahmten.
Es scheint, dass die Janitscharenmusik
an den europäischen Fürstenhöfen von schwarzen Sklaven, die in den Hafenstädten
gekauft worden waren, ausgeführt wurde. Viele der fürstlichen „Mohren“ bekamen
eine musikalische Ausbildung. Als Trompeter, Pauker, Hoboisten oder Schellenbaumträger
boten sie seit Ende des 17. Jahrhunderts an den bedeutenderen Höfen einen
vertrauten Anblick. Auch in den Jahrhunderten vorher hatte es schon schwarze
Musiker gegeben, die manche Instrumente (z. B. die mittelgroße arabische
Kesselpauke) in Europa heimisch machten (s. Martin 1993, S. 118). Friedrich
Wilhelm I. (1713–1740), der „Soldatenkönig“, stellte in Potsdam ein schwarzes
Musikkorps auf, das ca. dreißig schwarze Heeresmusiker umfasste. Das aus
fünfzehn Mann bestehende Querpfeiferkorps des königlichen Leibregiments in
Potsdam war ausschließlich aus „Mohren“ zusammengesetzt. Es ersetzte die
bis dahin üblichen acht Dudelsackpfeifer und wurde später noch durch einen
schwarzen Pauker ergänzt. Als „Janitscharen“ wurde die Truppe weit über Preußen
hinaus berühmt und diente als Vorbild für ähnliche Einheiten in anderen Fürstentümern.
Einige „echte“ Türken bei der „türkischen“ Janitscharenmusik wurden nach
ihrem Ausscheiden meist durch schwarze Musiker ersetzt. Auch noch in der
späteren Zeit gab es in der preußischen Armee schwarze Musiker. Als letzter
von ihnen starb 1935 im Alter von 48 Jahren in Köln der ehemalige Paukenschläger
des Leibgarde-Husaren-Regiments in Potsdam, Wilhelm Sambo. Er war in Kamerun
geboren, von wo aus er zu Kaiser Wilhelm II. nach Deutschland geschickt wurde.
Der wurde sein persönlicher Taufpate. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie
holte ein ehemaliger Regimentskamerad Sambo nach Münster, wo er in einer Konditorei
arbeitete (Martin 1993, S. 128).
Die Janitscharenmusik
gelangte u.a. in Opern: z. B. Glucks „La rencontre imprévue“ („Die Pilger
von Mekka“, 1764; Becken), „Iphigenie en Tauride“ (1779; Becken, Triangel,
kleine Trommel) sowie Mozarts „Entführung aus dem Serail“ (Becken, Triangel,
große Trommel).
Janitscharenmusik beeinflusste
jedoch nicht nur Oper und Ballett, sondern auch die Instrumentalmusik. Es
wurde sogar ein spezielles Klavier entwickelt: Um 1800 gab es Pianofortes,
die mit einem Janitscharenzug ausgerüstet wurden, durch den Glöckchen, Becken
sowie – durch den Schlag eines Klöppels auf den Resonanzboden – der Klang
der großen Trommel nachgeahmt wurden.
In seiner Sinfonie Nr.
100 in G-Dur, der sogenannten „Militärsinfonie“ (1794), die zu den späten
zwölf Londoner Sinfonien gehört, imitiert Haydn die Janitscharenmusik und
verwendet sie als Ausdrucksmittel des Martialischen. Für den „Alla turca“-Stil
sind u. a. charakteristisch: die Verwendung bestimmter Instrumente (s.o.),
durchgehende Geradtaktigkeit, perkussionsartige Akzentuierung der schweren
Taktzeiten, eine unter eine Melodie gesetzte „lärmende“, zwischen wenigen
Harmonien wechselnde Begleitung, Motivwiederholungen.
Von Janitscharenmusik
beeinflusst ist auch das Finale von Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie.
Die Wiener Allgemeine Zeitung ging in einem Artikel aus dem Jahr 1824 ausführlicher
auf die „türkische Musik“, das sogenannte „morgenländische Messing-Orchester“,
dieser Sinfonie ein (vgl. Gradenwitz 1977, S.
223–225): Laut dem Rezensenten benutzte Beethoven die „türkische Musik“
inmitten des Chorfinales als ein besonderes Steigerungsmittel. Sie tritt
ein in der Episode „Froh, wie alle Sonnen fliegen durch des Himmels prächt’gen
Plan“ für Solo-Tenor, Chor und Orchester (Allegro assai vivace. Alla Marcia.
B-dur, 6/8, Takt 331–431), und zwar mit den Instrumenten Triangel, Becken,
Große Trommel, die in der gesamten Sinfonie – außer im Prestissimo-Finale
– sonst nicht mitwirken. Diese Takte der Sinfonie haben einen marschartigen
Charakter.
Mozart verwandte den „Alla
turca“-Stil in mehreren seiner Kompositionen: so in seinem A-Dur-Violinkonzert
(1775, K.V. 219) im Mittelteil des Schlusssatzes, und im Schlusssatz seiner
Klaviersonate A-Dur K.V. 331.
Auch in drei Opern bzw.
Singspielen Mozarts fallen Exotismen auf: In „Zaide“, einem unvollendeten
Singspiel, und in der „Entführung aus dem Serail“ verwendete Mozart türkisches
Kolorit. In der „Zauberflöte“ taucht ein „Mohr“ auf.
Ob und wo Mozart jemals
türkische Musik gehört hat, ist weitgehend unbekannt. Manche Biographen vermuten,
dass er den „türkischen Stil“ aus zweiter Hand, d.h. aus Türken-Opern und
den zahlreichen Alla-turca-Stücken und -Märschen seiner Zeit, kennengelernt
habe. Unmittelbare türkische Einflüsse gingen wahrscheinlich von den Janitscharen-Kapellen
aus, die Militärmusik spielten. Sie waren damals in Wien zu hören. Türkische
Kunst- und Volksmusik hingegen sei dort damals kaum bekannt gewesen.
Es gibt Versuche, „Alla
turca“-Melodien Mozarts unmittelbar auf türkische Vorbilder zurückzuführen.
Kurt Reinhard kritisiert, dass bei der Suche nach Zitaten manchmal zu weit
gegangen worden sei. Es sei vielmehr sinnvoller, nach allgemeinen Stilmerkmalen
zu suchen, „die als türkisch gelten dürfen und die nur mit aller Vorsicht
aufgezeigt werden können, da Mozart sie in so hohem Maße in seinen eigenen
Stil eingeschmolzen hat, daß sie sich nur schwer erkennen bzw. herauslösen
lassen“ (Reinhard 1980, S. 519). „Was am meisten aber die Bindung an abendländischen
Musikgeist zum Ausdruck bringt, sind die harmonische Gestaltung und die tonartliche
Komponente... Gerade diese latent-klangliche Gestalt des Melodischen und
die Akkordik machen alle Alla-turca-Stücke auch bei Mozart schließlich zu
einem fast ausschließlich ‚europäischen Gegenstand‘“ (Reinhard 1980, S. 520).
Musikalische Exotismen
in „Die Entführung aus dem Serail“ (1782
in Wien uraufgeführt): In der Ouvertüre ständiger Wechsel zwischen Forte
und Piano. Beim Forte fällt stets die „türkische Musik“ mit folgenden Instrumenten
ein: Piccoloflöten, Klarinetten, Trompeten, Pauken, Becken, Triangel, großer
Trommel. „Chor der Janitscharen“ („Singt dem großen Bassa Lieder“): begleitet
vom gesamten Orchester mit den Schlaginstrumenten; im Hauptteil die für Türkenopern
charakteristische Terzmelodik; der Mittelteil in a-Moll ist ein typisches
„Alla turca“-Stück. Die melodische Bewegung in schnellen, „wirbelnden“ Sechzehntelfiguren-Sequenzen
erinnert an einen „Derwischtanz“, der damals in Wien bekannt war (Gradenwitz
1977, S. 232). Ähnliche Stilmittel werden auch in anderen „Türkenstücken“
der Zeit verwendet, so in Glucks „La rencontre imprevue“.
Auch „Die
Zauberflöte“ enthält orientalisches Kolorit. „Mit
Mozarts ‚Zauberflöte‘, dem Märchenspiel mit mystisch-symbolischer Handlung
und ägyptisch-kultischen Zeremonien, schließt ein Jahrhundert der Operngeschichte,
in dem exotische Gestalten, Szenen, Tänze und musikalische Motive fremdländischen
Kolorits die westeuropäische Bühne beherrschen“ (Gradenwitz 1977, S. 234).
„Die Musik der ‚Zauberflöte‘ enthält Elemente aus fast dem gesamten musikalischen
‚Exotik-Vokabularium‘ der Oper des 18. Jahrhunderts...“ (Gradenwitz 1977,
S. 234) „Die Zeit, in welcher die ‚Zauberflöte‘ entstanden ist, machte kaum
Unterschiede zwischen ‚indianischer‘, ‚chinesischer‘ und ‚türkischer‘ Exotik;
als Interesse für die antike ägyptische Kultur und Kunst erwachte – die vornehmlich
in der Sicht von Hellas und Rom überliefert war –, wurde auch ‚ägyptisches
Kolorit‘ im selben Sinne gezeichnet. In Opern mit Szenen liturgischen Zeremoniells
erschien fast immer der instrumentale oder chorale feierliche Marsch, gleichviel
ob die Priester in einer christlichen, mohammedanischen oder chinesischen
Kulthandlung amtierten; ein exotischer Tanz hatte die Form und den Charakter
einer ‚Chaconne‘, ob sie von Mohren, Chinesen, Spaniern oder Äthiopiern getanzt
wurde. Der alla-turca-Stil konnte in indianischen und ägyptischen Liedern
erscheinen...“ (Gradenwitz 1977, S. 235)
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts
wurden die Kunstdenkmäler Ägyptens in Kupferstichen bekannt, die nach Studien
in Ägypten in Europa veröffentlicht wurden. In Salzburg und Wien gibt es
Zeugnisse einer Architektur und Kunst, in denen ägyptische Denkmäler in barocker
Art nachgeahmt wurden: z. B. ägyptische Obelisken neben chinesischen Tempeln
in Gärten und Parks u.a. Auch die Theaterszenerie liebte solche exotischen
Elemente, was wiederum Einfluss hatte auf Thematik und Komposition. „Bereits
in der Frühgeschichte der Oper haben Theaterunternehmer auf die Schaulust
ihres Publikums spekuliert und ihnen [sic!] – wie im Theater überhaupt –
einen Abend voller Bühnenattraktionen versprochen, zu denen auch farbige,
exotische Kostüme und Bilder gehörten. In der Türkenoper des 18. Jahrhunderts
dominierten die Situationen und die Kostümierung; das Bühnenbild begnügte
sich meist mit stilisierten Serailgärten oder Bauten. Seit die Arbeiten Piranesis
bekannt wurden, wuchs das Interesse der Maler an der ägyptischen Landschaft,
und die Bühnenbildner schufen Bauten und Landschaftshintergründe in möglichst
eindrucksvoller Nachahmung“ (Gradenwitz 1977, S. 237). Giovanni Battista
Piranesi war Archäologe, Architekt, Kupferstecher und Radierer. 1750 veröffentlichte
er die „Opere varie de architettura“, die auf die Theaterbildner großen Einfluss
ausübten.
Ein erfahrener Theatermann
wie Emanuel Schikaneder wollte auf exotische Effekte und das gerade beliebte
ägyptische Kolorit nicht verzichten, als er das Libretto zur „Zauberflöte“
entwarf. In Mozart fand er einen Komponisten, der – wie auch er – als Freimaurer
mit mysteriös (und daher attraktiv) wirkenden Ritualen vertraut war.
Die Tonart Es-Dur, welche Beginn und Schluss der
„Zauberflöte“ und die Arien des Paares Tamino und Pamina beherrschen, und
die dreimaligen feierlichen Akkorde der Priester sowie die Holzbläser- und
Posaunenklänge in den feierlichen Szenen gehören zu Mozarts musikalischen
Freimaurer-Stilmerkmalen.
Anregungen zu seinem Text
zur „Zauberflöte" hat Schikaneder aus der Sammlung von Märchenerzählungen
Christoph Martin Wielands entnommen. In ihr gab es eine Geschichte mit dem
Titel „Lulu oder die Zauberflöte“. Als eine Quelle für die symbolischen liturgischen
Szenen ist der Roman „Sethos“ (nach dem Namen einer ägyptischen Gottheit)
genannt worden, dessen Verfasser der Abbé Terrasson war. Er war 1731 erschienen,
wurde ins Englische und Deutsche übersetzt und vor allem in Freimaurer-Kreisen
viel gelesen.
Weitere exotische Stoffe,
die Mozart musikalisch verarbeitete: „Mitridate“, „Thamos, König in Ägypten“.
Der Autor von „Thamos“, Tobias Philipp Baron von Gebler, hatte bei Mozart
Chöre und Zwischenaktsmusik bestellt. Mozart schrieb drei Chorstücke und
fünf Instrumentalintermezzi. Die feierlichen Chöre nehmen Stimmung und Stil
der „Zauberflöten“-Musik vorweg.
Höfische und bürgerliche
Chinoiserien (Gradenwitz 1977,
S. 137 ff.)
Das Interesse Europas
an China reicht historisch weit zurück. Es nahm zu durch die Reisebeschreibungen
Marco Polos, die kurz nach 1300 erstmals erschienen. Der Venezianer Marco
Polo reiste mit seinem Vater und dessen Bruder 1271 über Bagdad und den Iran
nach China. – Seit dem 16. Jahrhundert wurden Reisen von Europäern nach China
immer häufiger, ebenso Besuche von Chinesen in Europa.
1615 erschien das
bald in vielen Sprachen erhältliche Buch des Jesuitenpaters und Missionars
Matteo Ricci über die chinesische Kultur und Geisteswelt. Es gab rege Handelsbeziehungen
und den Austausch von Kulturgütern. Aus China exportiert wurden Tee, Porzellan,
Seidenstoffe, Tapeten, Lackarbeiten u.a. Kunsterzeugnisse, die an den Höfen
Europas und beim reichen Adel begehrt waren. Andererseits wollten die Europäer
aber auch in China Waren verkaufen, z.B. Stoffe und Opium aus Indien.
Da die begehrten
Waren aus China nur in begrenzter Zahl importiert wurden, begann man in Europa,
selber im chinesischen Stil zu produzieren. Die höfischen und bürgerlichen
Chinoiserien des Barock- und Rokoko-Zeitalters beeinflussten vor allem die
Gestaltung von Gartenanlagen, Kostümen, Poesie und Malerei.
Von chinesischer
Malerei waren u. a. der französische Maler Jean Antoine Watteau (1684–1721)
und der Maler und Kupferstecher Francois Boucher (1703–1770) beeinflusst.
Mit den ersten Missionaren kamen auch Künstler nach China. Seit dem 18. Jahrhundert
unterwiesen sie die Chinesen im perspektivischen und naturgetreuen Malen;
so z.B. der Italiener Giuseppe Castiglione (geb. 1688), der 1715 nach China
reiste und dort chinesischen Malern die Kunst der Ölmalerei beibrachte. Gradenwitz nennt außerdem den englischen Maler
John Robert Cozens (ca. 1752–1797), der der erste Maler gewesen sei, der
für Landschaftsbilder Aquarellfarben verwendete, wie sie u. a. die chinesische
Tuschmalerei kannte (Gradenwitz 1977, S. 158).
Chinesische Musik
Bis zur Pariser Weltausstellung im Jahr 1889 hatten
Europäer kaum Gelegenheit, außereuropäische Musik „live“ zu erleben. Doch
gab es vor allem im 18. und 19. Jahrhundert einen Musikstil „à la chinois“,
eine Chinamode, die sich in Sprechtheater, Oper und Ballett ausbreitete.
Während in Europa
chinesische Kunst und chinesisches Kunsthandwerk großes Ansehen genossen,
galt die chinesische Musik lange Zeit als fremd und absonderlich. Von ihr
erfuhren die Westeuropäer zunächst aus Reiseberichten. In seinen Reisebüchern
erwähnte bereits Marco Polo kurz die chinesische Musik, die er als „angenehm“
charakterisierte. Den meisten Reisenden jedoch erschien diese Musik bizarr,
misstönend und primitiv. Man fand die Melodien monoton, die Klänge und die
Art des Singens komisch. In einem Reisebericht von 1771 hieß es u.a.: „Ich
möchte um Gotteswillen niemals wieder das Deklamieren ihrer Schauspieler
und Schauspielerinnen anhören müssen, das immer von Instrumenten begleitet
wird. Das ist ein übertriebenes Rezitativ mit Begleitung und ich kenne nichts
Lächerlicheres mit Ausnahme ihres Gebärdenspiels“ (zit. nach Gradenwitz 1977,
S. 161). Manche glaubten, die Chinesen würden – sobald sie sie kennengelernt
hätten – die westeuropäische gegenüber ihrer eigenen Musik bevorzugen. Es
wurde die Vermutung geäußert, ihr Stolz auf ihre musikalische Tradition
resultiere aus der Unkenntnis einer besseren Musik und der Barbarei ihrer
Nachbarvölker (Gradenwitz 1977, S. 161). Noch 1851, zu einer Zeit, als man
sich in Europa intensiver mit chinesischer Musik auseinanderzusetzen begann,
schrieb Hector Berlioz, dass „die Chinesen und die Inder ... noch in der
tiefsten Barbarei stecken und in einer geradezu kindlichen Unwissenheit
befangen sind ... und die Orientalen von Musik da sprechen, wo wir höchstens
von Katzenmusik sprechen ..., für sie ist ... das Scheußlichste das Schöne“
(zit. nach Gradenwitz 1977, S. 12).
Chinesen traten erstmals gegen Ende des 17. Jahrhunderts
auf abendländischen Bühnen auf. Die namentlich erste bekannte Oper mit chinesischem
Sujet war die 1707 in Venedig uraufgeführte „Taican, Re della Cina“ (Libretto:
Urbano Rizzi; Musik: Francesco Gasparini).
Seit 1750 verbreitete sich die Chinamode in Opern
und Balletten. Allerdings spielte die „Chinesenoper“ gegenüber der Oper
„alla turca“ eine untergeordnete Rolle, was sich auch darin ausdrückte, dass
sie deren „exotische“ Stilmittel z.Tl. übernahm. In Frankreich endete sie
abrupt mit der Französischen Revolution, denn die Chinoiserie war ein Statussymbol
des Adels und Besitzbürgertums. In Deutschland lebte sie hingegen bis ins
19. Jahrhundert fort. Vor allem in den Jahren zwischen 1850–1890 gab es zahlreiche
Opern mit chinesischen Sujets, und vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts
fand die Chinesenoper wieder Interesse beim Publikum, diesmal „sicherlich
inspiriert von der aufblühenden Japanmode“ (Tzu-Kuang Chen 2006, S. 23).
Es gab vier Sujets, die in Chinesenopern oft vertont
wurden (Tzu-Kuang Chen 2006, S. 23ff.):
(1)
Tamerlan
(2)
Waisenkind
(3)
Drei Chinesinnen
(4)
Turandot
Zu (1)
Die Geschichte
von „Il Gran Tamerlano“ war jahrhundertelang ein beliebtes Sujet für Bühnenwerke.
Sie wurde u.a. vertont von Marc Antonio Ziani (1689), Georg Friedrich Händel
(1724) und Antonio Vivaldi (1735). Eigentlich hatte das Thema mit China nichts
zu tun: Tamerlan war ein tatarischer Kaiser. „Diese Verwechslung war den
Autoren durchaus bewusst, da man in der frühen Phase des Exotismus gerne
Türken und Perser, Inder und Indianer, Tataren und Chinesen mit- und untereinander
verwechselte“ (Tzu-Kuang Chen 2006, S. 25). Zum Inhalt s. Tzu-Kuang Chen
2006, S. 24f.
Zu (2)
„Die Waise
des Hauses Tschao“ war das beliebteste chinesische Sujet in Europa bis zur
Verbreitung der „Turandot“ und das einzige Libretto, das auf einem original
chinesischen, ca. 1330 entstandenen Drama basierte, dem eine wahre historische
Begebenheit aus dem siebten vorchristlichen Jahrhundert zugrunde lag. Dieses
Drama wurde 1713 von einem Jesuitenpater, der in China lebte, übersetzt und
1735 von dessen Ordensbruder Jean Baptiste du Halde in sein Sammelwerk „Description
geographique, historique, chronologique, politique et physique de l’Empire
de la Chine et de la Tatarie Chinoise“ aufgenommen. „Das originale
China-Drama war aufgrund seiner zahlreichen theatralischen wie musikalischen
Bearbeitungen und Epigonendramen fast ein Jahrhundert lang repräsentativ
für die abendländische Chinamode“ (Tzu-Kuang Chen 2006, S. 27; hier auch
Angaben zum Inhalt des Dramas). Pietro Metastasio hat es zweimal bearbeitet,
seine Libretti wurden von mehreren Komponisten (u.a. von Chr. W. Gluck) vertont.
1755 schrieb der französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire (1694–1778)
ein Theaterstück mit dem Titel „L’Orphelin de la Chine“, ein ernstes Drama,
in dem er der französischen Gesellschaft ein Bild der großen Tugend der Chinesen
zeigen wollte.
Zu (3)
Das bekannteste
Libretto war „Le Cinesi“ von Pietro Metastasio. Die Oper „Le Cinesi“ mit
der Musik von Antonio Caldara wurde 1735 im Rahmen einer Veranstaltung am
Wiener Kaiserhof aufgeführt; die drei chinesischen Damen wurden von der
Erzherzogin und späteren Kaiserin Maria Theresia, einer ihrer Schwestern
und einer Hofdame dargestellt. Man kann annehmen, dass das kaiserliche Privatgemach,
wo die Aufführung stattfand, mit chinesischen Kunstgegenständen ausgestattet
war, dass die Darstellerinnen in chinesischen bzw. chinoisen Gewändern auftraten.
Gesungen wurde italienisch, getanzt im französischen Stil und die einzelnen
Szenen bezogen sich auf die europäische literarische Tradition (Tragödie,
Pastorale, Komödie). 1754 gab es auf Wunsch der Kaiserin Maria Theresia eine
Neufassung dieser Oper, diesmal mit Musik von Christoph Willibald Gluck (Libretto:
Pietro Metastasio). Danach gab es noch weitere Vertonungen, die jedoch die
Popularität der Gluckschen Fassung nicht erreichten.
Zu (4)
Am bekanntesten
ist bis in die Gegenwart der Turandot-Stoff. Allerdings stammt das Märchen
von der Prinzessin Turandot ursprünglich nicht aus China, sondern aus dem
Orient. Der früheste Beleg datiert vom Ende des 12. Jahrhunderts in dem Epos
des persischen Dichters Nizami (1141–1209). In den verschiedenen Überlieferungen
ist die Prinzessin einmal russischer, ein andermal griechischer oder auch
chinesischer Herkunft. In die europäische Literatur wurde das Turandot-Märchen
durch die ins Französische übersetzte persische Märchensammlung „Les mille
et un jour“ („Tausend und ein Tag“) eingeführt, die im frühen 18. Jahrhundert
in Mitteleuropa, ausgehend von Frankreich, bekannt wurde.
Es entstanden mehrere
europäische Bühnenbearbeitungen des Turandot-Stoffes, die erste davon in
Frankreich. Folgenreich war das 1762 in Venedig uraufgeführte Theaterstück
„Turandot“ von Carlo Gozzi (1720–1806), das eine dramatische Bearbeitung
u.a. durch Friedrich Schiller erfuhr (1802). Carl Maria von Weber schrieb
für eine Stuttgarter Aufführung 1809 eine Ouvertüre und eine mehrteilige
Bühnenmusik zu Schillers „Turandot“.
Im 19. Jahrhundert
wurde „eine Reihe von mindestens acht“ Turandot-Opern komponiert (Tzu-Kuang
Chen 2006, S. 30). Im frühen 20. Jahrhundert bearbeitete Ferruccio Busoni
dreimal das Turandot-Sujet: in einer Suite, einer Schauspielmusik und einer
Oper. 1917 entstand seine Oper „Turandot“. Die Oper „Turandot“ von Giacomo
Puccini stammt aus dem Jahr 1926; sie basiert auf Schillers Dramatisierung.
Bühnenbild und Kostüme: Das Bemühen um
chinesisches Kolorit in der Oper beschränkte sich weitgehend auf das Bühnenbild
und die Kostüme. Seit ca. 1700 wurde versucht, das Bühnenbild exotisch zu
gestalten. „Dies brachte jedoch keine genauen Nachbildungen hervor, sondern
Mischstile, in denen europäisches Rokoko und exotische Elemente miteinander
verschmolzen.“ (Tzu-Kuang Chen S. 32). Ähnlich wurde bei den Kostümen keine
Authentizität angestrebt. Meist wurde Standardkleidung nur exotisch verfremdet.
„Das standardisierte Kostüm eines Chinesen bestand aus einem kegelförmigen
Hut, dünnem Schnurrbart, der Türkenmode entlehnten Pluderhosen mit vorderorientalischen
Motiven sowie spitzen, aufgebogenen Schuhen. (...) Die Chinesinnen trugen
bunte, seidene und meist bestickte Gewänder mit weiten Ärmeln, die durch
Troddeln oder Glöckchen reich verziert waren. Ein Schirm oder ein Fächer
in der Hand war das notwendige Requisit“ (Tzu-Kuang Chen 2006, S. 34f.).
Diese Kostüme zeigten nur wenige Gemeinsamkeiten mit authentischer chinesischer
Kleidung.
Die Musik: Vor dem 18. Jahrhundert
fanden sich in der Musik der Chinesenopern keinerlei chinesische Elemente.
Mit Beginn des 18. Jahrhunderts wuchs die Lust auf musikalische Exotismen.
Das einfachste Mittel war dabei die Verwendung von exotischen Instrumenten,
insbesondere Schlaginstrumenten. Oftmals wurde das türkische Instrumentarium
einfach auf chinesische Sujets übertragen, „denn in der Musik der exotischen
Opern waren die Grenzen zwischen nahöstlichem, indianischem und fernöstlichem
Kolorit fließend“ (Tzu-Kuang Chen 2006, S. 38). Zum türkisch-chinesischen
Instrumentarium gehörten Becken, Tamburin, Triangel, Schellen, Glöckchen,
kleine und große Trommel, Pauken, Trompeten, Piccoloflöten, Hackbrett und
Schellenbaum.
Karl Ditters von Dittersdorf, der als Konzertmeister
an der Wiener Aufführung von Glucks „Le Cinesi“ teilnahm, berichtete von kleinen
Glöckchen, Triangeln, kleinen Handpauken und Schellen u. dgl. Instrumenten
im Orchester, durch die in dieser Oper ein chinesisches Flair erzeugt werden
sollte (Gradenwitz 1977, S. 171). Diese Instrumente sind in der Partitur nicht
vermerkt, wurden demnach improvisiert. Auch Jean-Baptiste Lully gab in seiner
Musik zu „Le Bourgeois gentilhomme“ (1670) das exotische Instrumentarium nicht
an. „Die erhaltenen Partituren früher Opern mit chinesischen Sujets geben
(...) nicht immer ein genaues Bild des beabsichtigten Kolorits; zeitgenössische
Berichte von Theater- und Ballettaufführungen belehren uns, dass ‚exotische
Instrumente‘ an bestimmten Stellen eingesetzt wurden, um solches Kolorit anzudeuten,
doch in den Partituren sind diese Instrumente nicht eingezeichnet“ (Gradenwitz
1977, S. 171).
Im Laufe des 18.
Jahrhunderts wurden einige chinesische Melodien von Europäern aufgezeichnet
und in Europa bekannt gemacht. Meist jedoch griffen die Komponisten keine
original chinesischen Melodien auf, sondern sie erfanden eigene, pseudo-chinesische
Melodien.
Mit dem Beginn
des 19. Jahrhunderts wuchs das Interesse an authentischer fremdländischer
Musik. In der Ouvertüre zu Friedrich Schillers Schauspiel „Turandot“ verwendete
Carl Maria von Weber z.B. „eine echt chinesische Nationalmelodie“, die 1735
in der „Description geographique, historique, chronologique, politique et
physique de l’Empire de la Chine et de la Tatarie Chinoise“ des Paters Jean
Baptiste du Halde erschienen war. Erstmals waren in diesem Buch chinesische
Melodien aufgezeichnet. Über die Chinesen und ihre Musik äußerte du Halde
herablassend: „Wenn man ihnen Glauben schenken will, so waren sie die ersten
Erfinder der Musik, und sie rühmen sich, dass sie diese früher zu höchster
Vollendung entwickelt haben: wenn es wahr ist, was sie sagen, müssen sie
stark degeneriert sein, denn gegenwärtig ist sie so unvollkommen, dass sie
kaum den Namen Musik verdient, wie man aus einigen ihrer von mir notierten
Melodien urteilen kann“ (zit. nach Gradenwitz 1977, S. 162).
Das erste ausführliche
Buch über die Musik der Chinesen erschien 1779 in Peking und 1780 in Paris:
„De la musique des Chinois tant anciens que modernes“ des Jesuitenpaters
Joseph Marie Amyot, Band 6 seiner „Memoires concernant l’histoire, les sciences,
les arts, les mœurs, les usages &c. des Chinois“. Auf Amyots Buch
folgte der „Essai sur la musique ancienne et moderne“ in vier Bänden von
Jean Benjamin de la Borde (Paris 1780) mit einem Kapitel über chinesische
Musik, in dem die von du Halde und Rousseau überlieferte Melodie abgedruckt
ist.
Jean-Jacques Rousseau
hatte 1767 die chinesischen Melodien aus du Haldes Buch in sein „Dictionnaire
de musique“ übernommen. Rousseaus „Dictionnaire“ oder der „Essai“ von de
la Borde waren die Quelle für Carl Maria von Webers Musik. Webers Version
der Turandot-Melodie verarbeitete im Jahr 1943 Paul Hindemith im 2. Satz
(Scherzo) seiner „Sinfonischen Metamorphosen über Themen von Carl Maria von
Weber“.
Zwischen 1830 und
1889 wurde exotische Musik durch die zunehmende Möglichkeit zu reisen sowie
durch Reiseberichte den Europäern allmählich vertrauter. Es entstanden nun
auch (an keine außermusikalischen exotischen Sujets gebundene) Instrumentalwerke
mit „chinoisen“ Elementen.
Das allgemeine Chinesenbild: In den Chinoiserien
des Barock und Rokoko drückte sich u.a. „Sehnsucht nach einem glücklicheren,
unbeschwerteren Leben aus. Die meisten Adligen, die sich für Chinoiserien
begeisterten, kannten Chinesen nur von Bildern, Tapeten, Stoffen oder Porzellan.
In China, so dachten sie, seien die Menschen naturverbunden und lebensfroh,
leidenschaftlich und ungezwungen“ (Schuster 2001, S. 212). Um 1700 war das
Chinabild im Abendland durch die Berichte der Missionare durchaus positiv.
Trotzdem behandelten nach Auffassung von Tzu-Kuang Chen die Librettisten
die chinesischen Figuren aufgrund eines Überlegenheitsgefühls parodistisch
(Tzu-Kuang Chen 2006, S. 43).
Bald gab es im
Chinabild der Europäer eine Wende. So brach u.a. der Markt für kostbare chinesische
Waren und Chinoiserien zusammen. Die Französische Revolution und die Napoleonischen
Kriege lähmten das Interesse und die Kaufkraft des Adels. England, die neue
Macht in Südostasien, änderte seine Politik. China wurde zum Gegner, den
es verachtete. Immer offener wurden jetzt Teeimporte aus China mit illegalen
Opiumverkäufen oder Schmuggel finanziert.
„1840 eröffnete
England den Opiumkrieg gegen China, der bis 1842 dauerte und mit der Kapitulation
Chinas endete. China wurde gezwungen, die Opiumeinfuhr zu dulden, einige
Häfen für ausländische Kaufleute zu öffnen, auf die Gerichtsbarkeit über
Europäer und Amerikaner im eigenen Land zu verzichten, Land abzutreten und
die Ausreise von billigen Arbeitskräften zu erlauben. Für die ganze Welt
wurde damit offenkundig, dass der Kaiser von China seine Macht und sein Ansehen
verloren hatte, seine Regierung dem Zusammenbruch nahe war“ (Schuster 2001,
S. 215).
Sogar von großen
Denkern wie Herder, Hegel und Marx wurde China als rückständiges, in seinen
Traditionen erstarrtes Land bezeichnet“ (Schuster 2001, S. 213f.). Herder
äußerte über die Chinesen: „Sinesen waren und blieben sie, ein Volksstamm
mit kleinen Augen, einer stumpfen Nase, platter Stirn, wenig Bart, großen
Ohren und einem dicken Bauch von der Natur begabet“ (Schuster 2001, S. 214).
In der Literatur und den Bühnenwerken dominierte bis ins 19. Jahrhundert
das Bild des lächerlichen und grotesken Chinesen, der sich wie ein Automat
bewegt. In der komischen Oper spielte der eigenartige chinesische Vokalstil
eine Rolle; der von Europäern als „gequetscht, kehlig gepresst und steif“
empfunden (Gradenwitz 1977, S. 148) und oftmals parodiert wurde.
Das Chinesenbild
seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: Die ambivalente
Figur des Chinesen in Theodor Fontanes „Effi Briest“ kann man als Sinnbild
für China am Ende des 19. Jahrhunderts verstehen. „In der Vergangenheit war
China vital, wurde geliebt, war von faszinierenden Geheimnissen umgeben.
In der Gegenwart existiert nur noch ein Abziehbildchen des mächtigen Reiches,
eine lächerliche, verächtliche Karikatur“ (Schuster 2001, S. 217). 1895 prägte
Kaiser Wilhelm II. das Schlagwort von der „Gelben Gefahr“. „Man fürchtete
Japans Kolonialpolitik und seine wachsende militärische Stärke, aber auch
sein Vordringen auf dem Weltmarkt. Im Falle Chinas fürchtete man die Volksmassen,
die vom Ausland ebenso erbarmungslos ausgebeutet wurden wie von der eigenen
Regierung.. In London, New York und San Francisco gab es Chinesenviertel,
deren Bewohner sich kaum integrierten und die nur schwer zu kontrollieren
waren. Es waren die Nachkommen der Kulis, die England nach 1850 als billige
Arbeitskräfte für Zuckerrohrplantagen in die Karibik und Amerika für den
transkontinentalen Eisenbahnbau in die USA importiert hatten und die weitere
Einwandererwellen nach sich gezogen hatten. Bereits 1898 erschien ein Science-fiction-Roman
von M.P. Shiel mit dem Titel The Yellow Danger, in dem eine chinesische
Invasion in Europa beschrieben wird. Nachdem die Boxer in einem blutigen
Aufstand versucht hatten, die Ausländer aus China zu vertreiben, wuchs die
Angst vor den Chinesen“ (Schuster 2001, S. 229).
Die Entwicklung
der musikalischen Chinoiserie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts: Einen Wendepunkt
im Verhältnis abendländischer Musik zu fremden Musikkulturen bedeutete die
Pariser Weltausstellung von 1889. Sie ermöglichte es vielen Komponisten erstmals,
anderen Musikkulturen unmittelbar zu begegnen. Auf der Ausstellung gastierte
u.a. ein javanisches Gamelanorchester. Es beeindruckte besonders Claude
Debussy und prägte einige seiner Kompositionen (vor allem das Klavierstück
„Pagodes“ aus den „Estampes“ von 1903). Auch spätere Komponisten ließen sich
von Gamelan-Musik inspirieren.
Chinesische Musik
war auf der Pariser Weltausstellung allerdings nicht vertreten. Dennoch wuchs
zur damaligen Zeit wieder das Interesse an ihr, was wohl mit der europäischen
Japan-Begeisterung (in Deutschland „Japonismus“ genannt) zusammenhing, die
um die Mitte des 19. Jahrhunderts infolge der Öffnung japanischer Häfen zum
Westen einsetzte und durch mehrere Weltausstellungen gefördert worden war
(Tzu-Kuang Chen 2006, S. 49).
Die China-Begeisterung
kam im frühen 20. Jahrhundert u.a. in folgenden Musikwerken zum Ausdruck:
·
Gustav Mahlers
„Das Lied von der Erde“ (1908/09)
·
Anton Weberns Bethge-Vertonung
in „Vier Lieder“ op. 12 und op. 13 (1914–18)
·
Béla Bartóks Oper
„Der wunderbare Mandarin“ (1923)
·
Giacomo Puccinis
Oper „Turandot“ (1924/26)
·
Franz Lehár „Das
Land des Lächelns“ (1929)
In der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts suchten westliche, meist amerikanische Komponisten
Anregungen in der chinesischen Kultur, z.B. John Cage (Einfluss der chinesischen
Philosophie) und Cornelius Cardew (Einfluss des Konfuzianismus, dann des
Maoismus).
Die Musik: Das „Chinesische“ in einer Komposition drückte
sich melodisch u.a. aus
Das Instrumentarium, das in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts einem Werk chinesisches Kolorit verleihen sollte, bestand
aus Piccolo, Harfe, Celesta, Triangel, Glockenspiel, kleiner und großer Trommel,
großem Becken, Holzblock und Tamtam; einige dieser Instrumente waren schon
im 18. Jahrhundert Bestandteil eines „chinesischen“ Instrumentariums.
Die Neue Musik des 20. Jahrhunderts bediente sich
zwar kaum chinesischer Stilmittel, doch sie verwendete gern traditionell
chinesische Instrumente, z.B.
·
Edgar Varèse
in „Ionisation“ (1931) chinesische Gongs und Holzblöcke
Fantastik, Exotismus und Exotik:
Im 17. und
18. Jahrhundert waren europäische Komponisten aufgrund spärlicher Quellen
kaum in der Lage, chinesische Melodien nachzubilden. Manche Werke der Instrumentalmusik
hatten einen Titel, der zwar chinesische Bezüge suggerierte, ohne dass jedoch
ein Zusammenhang mit chinesischer Musik erkennbar bzw. hörbar wurde. Ein
Beispiel ist das Instrumentalstück „Les Chinois“ (1730) von François Couperin.
Solche Kompositionen zählt Tzu-Kuang Chen zur Kategorie „Fantastik“; noch
im 20. Jahrhundert gehören nach ihrer Auffassung viele als „chinesisch“ betitelte
Kompositionen dazu – dies, obgleich Informationen über chinesische Musik
inzwischen leicht zugänglich waren.
„Im Vergleich zu den Werken der Kategorie ‚Fantastik‘
klingen die Kompositionen der Kategorie ‚Exotismus‘ ein wenig deutlicher
nach einem exotischen, wenngleich unchinesischen Kolorit. Kennzeichnend für
die Kategorie ‚Exotismus‘ ist die Verwechslung der Idiome chinesischer Musik
mit denen einer anderen exotischen Musik, häufig orientalischer und japanischer
Musik“ (Tzu-Kuang Chen 2006, S. 64). Die Autorin nennt als Beispiel Christoph
Willibald Glucks Oper „Le Cinesi“ (1754), in der der Komponist ein „türkisches
Instrumentarium“ verwendet. Noch im 20. Jahrhundert fanden die Stilmittel
des Exotismus in Werke wie z.B. Busonis Oper „Turandot“ Eingang, die kein
echt chinesisches Kolorit, sondern durch das Zitieren chinesischer, türkischer,
indischer und irischer Melodien ein „allgemein exotisches Ambiente“ aufweisen
(Tzu-Kuang Chen 2006, S. 65).
Exotik: Seit
dem 19. Jahrhundert verwenden immer mehr Komponisten originale exotische
Musik. Einer der frühesten Versuche war Carl Maria von Webers Schauspielmusik
zu Friedrich Schillers „Turandot“ (1809), die auf einer chinesischen Melodie
basiert. Um eine exotische Wirkung zu erzielen, wurden auch Stilmittel der
chinesischen Musik verwendet, z.B. Pentatonik, Parallelführung, Unisono-Technik
oder die Imitation von Klangeffekten chinesischer Musik.
Die Grenzen zwischen Exotismus und Exotik sind
oft fließend. Tzu-Kuang Chen nennt als Beispiel die Oper „Turandot“ von Puccini.
In dieser Oper werden originale chinesische Melodien zitiert und einige
pentatonische Arien komponiert. Dieses Vorgehen lasse die Einordnung in
die Kategorie ‚Exotik‘ ohne weiteres zu. Andererseits jedoch würden Stilmittel
verwendet wie Quintbordun, Orgelpunkt, Ostinato u. dgl., die nicht für chinesische,
sondern orientalische Musik charakteristisch seien (Tzu-Kuang Chen 2006,
S. 66).
Mit der Komposition der „Turandot” begann Puccini
(1864–1924) 1920, er starb kurz vor ihrer Vollendung. Die Oper wurde von
dem italienischen Komponisten und Schüler Puccinis Franco Alfano nach den
vorhandenen Skizzen fertiggestellt und 1926 in der Mailänder Scala unter
Arturo Toscanini uraufgeführt. Im Jahre 2002 legte der italienische Komponist
Luciano Berio (1925–2003) eine Neufassung vor.
Während seiner Arbeit an „Turandot“ betrieb Puccini
musikethnologische Studien über traditionelle chinesische Musik. Er habe
dies – so Günter Kleinen[4]
– aber nur auf sehr vordergründigem Niveau getan, so dass sich das „Chinesische“
in der Verwendung pentatonischer Melodien, in bestimmten Instrumentaleffekten
(reicher Einsatz von Schlaginstrumenten: Tamtam, Gongs, Xylophon, Röhrenglocken,
Celesta, Holztrommel) und polyrhythmischen Klangverflechtungen erschöpfe.
Völlig unberücksichtigt sei die lange Tradition der chinesischen Oper mit
ihrer ganz eigenen Art des Gesangs geblieben (Kleinen 2003, S. 107).
In seiner Oper verwendet Puccini für die Protagonistin
eine – wie Tzu-Kuang Chen feststellt – Melodie, die chinesischen Ursprungs
ist: das chinesische Volkslied „Molihua“ (Die Jasminblüte). Dieses Erinnerungs-
oder Leitmotiv erklingt immer dann, wenn Turandot auftritt oder gedanklich
präsent ist. Obwohl dieses Volkslied mehr als hundert Jahre vorher bereits
in die abendländische Musik Eingang gefunden hatte, wurde es erst seit Puccinis
Adaption weltweit bekannt.
Außer durch
die „Molihua“-Melodie erzeugt Puccini in der „Turandot“ exotische Wirkungen
durch pentatonische Melodien und modale Harmonik.
Goethes „Westöstlicher
Divan“ erschien 1819. Den Anstoß zu diesem Gedichtzyklus gab die Lektüre
des persischen Dichters Hafez (Hafis) (1317/25 bis 1389/90), den Goethe 1814
in einer deutschen Übersetzung kennengelernt hatte. In seinem Gedichtzyklus
ging es Goethe um die „west-östliche“ Begegnung zweier Kulturen und zweier
Literaturen. Im Osten sah Goethe die „Urheimat der Menschheit“.
Ebenso wie in das
Mittelalter projizierten die Romantiker ihre Sehnsüchte in den Orient. Der
erste war Novalis, Freiherr Friedrich von Hardenberg (1772–1801). Friedrich
Rückert (1788–1866) schrieb Übersetzungen und Nachdichtungen persisch-arabischer
Poesie. Victor Hugo (1802–1885), das Haupt der französischen Romantik, verfasste
u. a. die Gedichtsammlung „Les Orientales“ (1829). Hugo unternahm auch Reisen
in den Orient. Der Dichter Alphonse de Lamartine (1790–1869) bereiste den
Nahen Osten und pries ihn in seiner Dichtung. Auch Maler reisten dorthin,
insbesondere nach Nordafrika, u. a. Alexander Gabriel Decamps, Prosper Marilhat,
Eugene Delacroix und Eugene Fromentin (Gradenwitz 1977, S. 270).
In England romantisierte
u. a. Lord Byron (1788–1824) den Orient. Er unternahm Reisen in die Mittelmeerländer
und nach Kleinasien. England verließ er 1816 nach einem gesellschaftlichen
Skandal; er starb sehr jung in Griechenland, wo er sich für die griechische
Freiheitsbewegung einsetzte. (Byron veröffentlichte u.a. eine Reihe romantischer
Verserzählungen aus dem Orient.) 1817 veröffentlichte Thomas Moore (1779–1852),
der mit Byron befreundet war und später Byrons Werke herausgab und sein Biograph
wurde, die orientalische Versdichtung „Lalla Rookh“; daraus vertonte Robert
Schumann 1843 das oratorienhafte Werk „Das Paradies und die Peri“.
Die Orientdichtung
inspirierte viele französische Komponisten. Als überzeugter Saint-Simonist
verließ der 23-jährige Musiker Félicien David 1833, als die Sekte gerichtlich
aufgehoben worden war, mit einer Gruppe von Gesinnungsgenossen Frankreich,
um eine Pilgerfahrt ins Heilige Land zu unternehmen. Stationen der Reise
waren Konstantinopel, Rhodos, Smyrna, Jaffa, Alexandria, Kairo. Nachdem in
Ägypten die Pest ausgebrochen war, traten Félicien David und seine Freunde
die gefahrvolle Wanderung durch die Wüste an. In der Wüste zeichnete David
Melodien der Beduinen auf. Auf einem Kamel wurde ein Klavier mit transportiert.
Als David einmal Beduinen darauf Melodien vorspielte, zertrümmerten sie erschrocken
das Instrument (vgl. Gradenwitz 1977, S. 22f.).
1844 fand die Uraufführung
seiner Sinfonischen Ode „Le Désert“ statt, die David unter dem Einfluss seiner
Wüstenwanderung geschrieben hatte (zum Inhalt der Komposition siehe Gradenwitz
1977, S. 284ff.). Das Werk fand viel Resonanz und hatte großen Einfluss auf
die musikalische Orient-Romantik. Die Zeitungen und Zeitschriften berichteten
ausführlich über die Uraufführung am 8. Dezember 1844. Es gab auch Konzertreisen
des Komponisten und u.a. Aufführungen in Amerika.
Viele künstlerische
Stilisierungen exotischer Musik durch westeuropäische Komponisten stießen
bei Hörern aus den fernen Ländern auf Unverständnis und Ablehnung. Sie vermochten
ihre Musik darin nicht wiederzuerkennen. Von Félicien Davids „Le Désert“
jedoch ist überliefert, dass die Verarbeitungen der arabischen Melodien auch
arabische Häuptlinge, die die Komposition in Paris hörten, in Begeisterung
versetzten.
David komponierte
während seiner Reise im Nahen Osten u.a. Klavierstücke, der er unter dem
Titel „Brises d’Orient“ veröffentlichte. Auch sie verwenden orientalische
Melodien und Motive. Es wird berichtet, dass David seine „orientalischen
Melodien“ auf seiner Reise auf dem mitgeführten Klavier vorspielte und die
Eingeborenen den Klängen lauschten, „den Spieler für ein übernatürliches
Wesen haltend“ (Gradenwitz 1977, S. 283).
Exotisierende Musik
fand Eingang in die Salonmusik. Aber auch unter den großen Komponisten der
damaligen Zeit gab es kaum einen, der nicht Werke mit exotischen Themen geschrieben
hätte. Camille Saint-Saëns war ein weiterer unter den französischen
Komponisten, die es reizte, ferne Länder kennenzulernen, ihre Musik in sich
aufzunehmen und zu verarbeiten. Saint-Saëns reiste nach Nordafrika und verarbeitete
seine Eindrücke musikalisch in der „Suite algérienne“ für Orchester; Mittelpunkt
dieser Komposition ist die „Rhapsodie maure“. „Exotische“ Mittel darin sind
u.a. Unisoni, sich unverändert wiederholende Bässe, Melodien mit engem Tonumfang,
ostinate Rhythmen, vage Tonalitäten. Im „Bacchanale“ der Oper „Samson und
Dalilah“ (1877) verwendet Saint-Saëns u.a. Sekund- und übermäßige Sekundintervalle
(„Zigeunermusik“-Intervalle) in der Melodik als exotisches Ausdrucksmittel.
In „Samson und
Dalila“ erscheint in der Gestalt Dalilas das Exotische auch als bedrohlich.
Die exotische Frau hat zerstörerische Kräfte. Dalila erinnert darin an die
(bekanntere) „Carmen“, in der das Exotische mit den bürgerlichen Normen
in einen dramatischen Konflikt gerät.
In Deutschland entstanden
ebenfalls Kompositionen „exotischer“ Stoffe: z.B. Robert Schumanns
weltliches Oratorium „Das Paradies und die Peri“ nach Thomas Moores „Lalla
Rookh“ (Gesang der Geister am Nil, Gebets-Stimmung am Abend, Huri-Chor, Schilderung
des Paradieses). – Carl Maria von Weber schrieb an exotischen Stoffen
außer der „Turandot“-Musik den orientalisierenden Einakter „Abu Hassan“,
die Oper „Preziosa“ (mit spanischer Zigeunerromantik) und die Musik zu „Oberon“.
Schauplatz des 1826 in London uraufgeführten „Oberon“ ist zum Teil der Orient.
Gleichzeitig mit
der Orientmode gab es auch deren Verspottung: u.a. eine Parodie der „Wüste“
Félicien Davids durch Jacques Offenbach
(1846). Offenbach gab dieses Werk mit allen Mitteln des musikalischen
Witzes der Lächerlichkeit preis. Die Uraufführung seiner Musikparodie fand
1846 in einem Pariser Salon statt. Mittel von Offenbachs Karikatur: Statt
romantischer Schöngesänge brechen Gassenhauer und Tanzschlager in Davids
romantischen Klangzauber ein. Zum Inhalt: Im Mittelpunkt der Handlung steht
ein Pariser Pilger namens Citrouillard (Herr Kürbis). Er verträgt das Wüstenklima
nicht, ängstigt sich dort in der Nacht und zittert vor wilden Tieren. Er
sucht in der Wüste verzweifelt nach Cafés und fühlt sich wie ein Verirrter
(Gradenwitz 1977, S. 287).
Jacques Offenbach
(geboren 1819 in Köln) lebte seit 1833 in Paris. 1855 fand dort eine Weltausstellung
statt, bei der es von Fremden und exotischen Würdenträgern wimmelte. So bot
es sich an, dem Pariser Publikum auch auf der Bühne ein Stück Exotik zu präsentieren.
Im Dezember 1855 fand die Erstaufführung von „Ba-ta-clan“, einer „Chinoiserie
musicale“, statt, die die Chinamode persiflierte. Im Grunde karikierte Offenbach
damit das Pariser Leben des – nach China verlegten – napoleonischen Hofes.
Er karikierte aber auch die italienischen und großen französischen Opern
mit ihrem Pathos und den „großen Gefühlen“, die damals ihren mächtigsten
Repräsentanten in Giacomo Meyerbeer hatte (Gradenwitz 1977, S. 288).
Als exotisch galt
auch Spanien (das uns heutzutage relativ vertraut erscheint). Der Philologe,
Archäologe und Übersetzer Prosper Mérimée, der Griechenland, den Vorderen
Orient und Spanien bereiste, schrieb 1845 die Novelle „Carmen“, die Georges
Bizet in seiner gleichnamigen Oper (1875) verarbeitete. Die Oper „Carmen“
gilt als Höhepunkt der französischen Orientromantik.
Georges Bizets
Opern spielen alle in fremden oder exotischen Regionen: „Die Perlenfischer“
in Ceylon, „La jolie fille de Perth“ in Schottland, „Djamileh“ in Ägypten,
„Carmen“ in Spanien etc. Für die Franzosen hatte Spanien einen ausgesprochen
exotischen Reiz, auch später noch für Debussy und Ravel.
„Carmen“: Uraufführung
1875 in Paris; Text: nach Prosper Mérimée von Henri Meilhac und L. Halevy.
Besonders exotisch
wirken die „Seguidilla“, der „Zigeunertanz“, der „Kastagnettentanz“, das Vorspiel
zum 4. Akt, der Chor der Zigarettenarbeiterinnen im ersten Akt, die „Habanera“.
Exotisch ist aber auch vor allem die Gestalt der Carmen.
Die Vorlage für
Bizets Oper war die „Carmen“-Novelle von Prosper Mérimée, in der die Titelheldin
als eine Mischung von Sinnlichkeit und Grausamkeit, von Schönheit und Niedertracht,
als eine Wilde, die keine Konventionen und Gesetze kennt, dargestellt ist.
Bizets Libretto weicht zwar in vielem von Mérimées Novelle ab, aber bei
ihm ist Carmen ebenfalls zwiespältig: Heroine und Bösewicht zugleich. Hier
erscheint in der Oper ein ganz neuer Frauentyp, der nichts gemeinsam hat
mit den engelsgleichen Heldinnen der romantischen Oper. Schmidt-Garre nennt
Bizets Carmen „ein weibliches Gegenstück zu Don Giovanni, aber im Gegensatz
zu dieser klassischen und, obwohl ebenfalls spanisch, gar nicht exotistischen
Figur, spielt bei ihr das Fremdländische, ihre orientalisch gefärbte Feminity,
entscheidend mit“ (Schmidt-Garre 1968, S. 30). Gegengewicht zum Exotismus
sind Don José und vor allem Micaela.
In vielen seiner Opern gibt es exotisches Kolorit.
Herausragend ist jedoch die Oper „Aida“.
Als Mozarts „Zauberflöte“ entstand, war die Kenntnis
der ägyptischen Kultur und Geschichte noch gering. Erst 1822 wurden die Hieroglyphen
teilweise entziffert, ägyptische Kunstwerke wurden nach Westeuropa gebracht
und ägyptische Bauwerke und Malerei in Europa nachgeahmt. Bei Ausgrabungen
und Forschungen wurde die Antike neu entdeckt. Auf Reisen lernten Dichter,
Dramatiker, Maler und Komponisten Ägypten kennen.
Dem Libretto der Oper „Aida“ liegt eine Erzählung
zugrunde, die ein Archäologe, der Ägyptologe Auguste-Edouard Mariette, aufgezeichnet
hat. Angeregt durch seine Ausgrabungen bei Memphis und Theben, hatte er die
Erzählung frei erfunden. Allerdings war er ein Kenner der ägyptischen und
äthiopischen Geschichte und Kultur. Die „Aida“ spielt in Memphis und Theben
zur Zeit der Pharaonen-Herrschaft. Für die Ausführung des italienischen Librettos
verpflichtete Verdi den Dramatiker Ghislanzoni. Es wird in der Literatur
öfter behauptet, Verdi habe z.Zt. der Arbeit an „Aida“ eine Reise nach Ägypten
unternommen und sei dabei unmittelbar inspiriert worden. Gradenwitz jedoch,
der sich auf neuere Forschungen stützt, nennt die Erzählung von einer Reise
Verdis nach Ägypten (die auch in neuen Opernführern wiedergegeben wird)
eine Legende (Gradenwitz 1977, S. 298f.).
Verdis „Aida“ wurde als Festoper zur Feier der Eröffnung
des Suezkanals in Kairo durch den Vizekönig von Ägypten Ismail Pascha, der
ein begeisterter Opernfreund war, in Auftrag gegeben. Der Suezkanal wurde
jedoch schon 1869 eröffnet, und Verdis Oper wurde erst am 24. Dezember 1871
in Kairo uraufgeführt. Darüber gibt es zeitgenössische Berichte. In einem
davon heißt es über das Publikum: „Die Araber, selbst die reichen unter ihnen,
lieben unsere Aufführungen nicht; sie ziehen das Miauen ihrer Gesänge und
ihr monotones Getrommele allen Melodien der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft vor. Es ist ein wahres Wunder, in einem Theater in Cairo einen Turban
zu erblicken“ (Gradenwitz 1977, S. 301f.).
Es reizte Verdi anscheinend sehr, eine Oper mit
orientalischem Kolorit zu schreiben. Während der Instrumentationsarbeit
begab er sich nach Florenz, um dort im Museum eine antike ägyptische Flöte
auf ihre Verwendbarkeit zu prüfen, war jedoch enttäuscht darüber, nur „ein
Rohr mit vier Löchern“ – „wie bei unseren Schafhirten“ – vorzufinden (Gradenwitz
1977, S. 304). Speziell für die „Aida“ ließ er Trompeten „von altägyptischer
Form“ anfertigen, die „Aida“-Trompeten; es handelt sich bei ihnen um Fanfarentrompeten
von schlanker Bauart mit einem scharfen, glanzvollen Ton. Die „Aida“-Trompeten
erklingen als Dreiergruppe im Triumphmarsch des 2. Aktes.
Als musikalische Mittel, die ein exotisches Kolorit
erzeugen, werden von Gradenwitz genannt: die „konventionelle exotische Tonart
g-Moll“ im Tanz der schwarzen Sklaven in der ersten Szene des 2. Aktes. Im
Tanz der Priesterinnen in der 2. Szene des ersten Aktes werde das orientalische
Kolorit vor allem durch die Instrumentation erreicht, auch durch die eingestreuten
Unisono-Passagen (Gradenwitz 1977, S. 306).
Der französische Komponist Ernest Reyer, ein Freund
Félicien Davids, der selbst im französisch-exotischen Stil komponierte, berichtete
über die Uraufführung der „Aida“ und setzte sich ausführlich mit dem Werk
auseinander. Reyer hatte einige Jahre in Algerien verbracht und war ein Kenner
afrikanischer und nahöstlicher Musik. Er bestätigte den Eindruck lokalen Kolorits
in Verdis „Aida“ und meinte, Verdi habe u.a. ein türkisches und ein weiteres
orientalisches Motiv unmittelbar verwendet.
Andererseits behauptet Carl Dahlhaus, bei der Erzeugung
eines exotischen Flairs seien keine spezifischen, „authentischen“ Stilmittel
angewendet worden. So könne man über musikalische Exotismen nicht nach ethnographischen
Kriterien urteilen. Die geographische bzw. ethnische Zugehörigkeit erschließe
sich weniger aus den musikalischen Mitteln als aus textlichen und bildlichen
Merkmalen. „Ohne ein Bild, das ein Milieu schildert, oder eine Überschrift,
die eine bestimmte Herkunft suggeriert, sind die in einem europäisch-artifiziellen
Tonsatz eingesprengten ethnischen Elemente selten so ausgeprägt, daß sie
eindeutig lokalisierbar wären – eine Ausnahme stellen manche Tänze dar“
(Dahlhaus 1980, S. 255). Aber auch in den Texten werden die exotischen Szenerien,
Landschaften nicht realistisch beschrieben, sondern sie erscheinen eher als
ideale Landschaften.
Wesentlich war es – so Dahlhaus (Dahlhaus 1980) –, dass musikalische Mittel angewendet wurden, die zwar von den Normen damaliger europäischer Kunstmusik abwichen, die jedoch in den Rahmen europäischen Komponierens integrierbar blieben; Dahlhaus spricht von einer „integrierbaren Regelwidrigkeit“. Der musikalischen Darstellung sowohl einheimischer als auch fremder Milieus dienen ähnliche stereotype Mittel, z.B. die leere Quinte als Doppelbordun, Ostinati, Pentatonik, dorische Sexte, mixolydische Septime, übermäßige Sekunde, übermäßige Quarte, eine nicht funktionale, sondern koloristische Chromatik.
Wie wenig genau man in der damaligen Zeit das Problem
der Authentizität nahm, zeigt sich an der Oper „Die Afrikanerin“ von Giacomo
Meyerbeer, ein Werk, das erstmals 1865 in der Pariser Großen Oper aufgeführt
wurde. Das Libretto stammt von dem französischen Schriftsteller Eugène Scribe.
In dessen Textbuch stand ursprünglich eine afrikanische Prinzessin im Mittelpunkt
der Handlung, so dass der Titel „Die Afrikanerin“ folgerichtig war. Nach
mehrjähriger Arbeit an der Oper war Meyerbeer aber unzufrieden, er verlangte
eine fast völlige Neufassung. So entstand das endgültige Libretto, das Indien
zum Schauplatz hat. Der Titel „Die Afrikanerin“ wurde jedoch beibehalten,
obwohl nun keine Afrikanerin, sondern eine Inderin die Hauptrolle spielte.
Unter diesem Titel ging das Werk über Hunderte von Theatern, ohne dass der
Irrtum jemals korrigiert worden wäre.
Der Opernlibrettistik des 19. Jahrhunderts wurde
durch orientalische Sujets ein noch unverbrauchtes Stoffreservoir erschlossen.
Anstöße dazu gaben auch politische Ereignisse. Seit Napoleons Ägypten-Feldzug
im Jahr 1798 gab es in Frankreich einen Boom der Orient-Literatur. Das Zeitalter
des Kolonialismus trug wesentlich dazu bei.
Zu den exotischen Operncharakteren gehören im 19.
Jahrhundert auch die Zigeunerin. Beispiele: C. M. v. Webers „Preziosa“,
Bizets „Carmen“, Verdis „Trovatore“. In diesen Opern ist die Zigeunerin eine
Spanierin. Für Franz Liszts Instrumentalmusik hingegen spielte die Musik
der ungarischen Zigeuner eine zentrale Rolle (zur Zigeunerromantik siehe
Gradenwitz 1977, S. 307ff.).
Während im 18. Jahrhundert Exotismen oft dazu dienten,
komische Wirkungen zu erzeugen, so drangen sie im 19. Jahrhundert in die
ernste Oper und symphonische Musik ein. Demnach wurden – so Dahlhaus – „Araber,
Inder oder Chinesen ebenso mit der Würde des Tragischen ausgestattet ...
wie seit dem 18. Jahrhundert die Bourgeoisie (früher gleichfalls bloßes Objekt
der Komödie) im bürgerlichen Trauerspiel“ (Dahlhaus 1980, S. 254). Dem lag
möglicherweise ein „Zerfall des Glaubens an eine allgemeine und gleiche Vernunft,
zu der man die eigenen ethnischen Normen stilisierte“ zugrunde (Dahlhaus
1980, S. 254).
Exotische Elemente in Kompositionen von Claude Debussy
Mit der Pariser
Weltausstellung 1889 anlässlich des einhundertsten Jahrestages der Französischen
Revolution erreichte die exotische Welle der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
einen Höhepunkt. Besonderes Aufsehen erregten in der holländischen Abteilung
das javanische „Kampong“, die Nachbildung eines javanischen Dorfes mit sieben
Hütten aus Bambusrohr und Palmblättern, in denen sechzig Javaner aus verschiedenen
Regionen, darunter zwanzig Frauen, wohnten; sie sollten dort ihrem alltäglichen
Leben nachgehen. Die besondere Attraktion des „Kampong“ waren die von einem
Gamelan-Ensemble begleiteten Darbietungen von vier jungen Tänzerinnen im
Alter von 12 bis 16 Jahren aus der Ballett-Truppe des Prinzen Mangko-Negoro,
des damaligen Herrschers von Java. Auch bei der nächsten Pariser Weltausstellung
von 1900 gab es javanische Gamelan-Musik. Bereits seit 1887 hatte man in
Paris Gelegenheit, die Instrumente eines Gamelan-Ensembles zu besichtigen:
Die niederländische Regierung hatte sie dem „Musée instrumentale“ des Conservatoire
geschenkt (Arndt 1993, S. 50f.).
Viele Künstler (Musiker,
Maler) und Intellektuelle reagierten auf die javanische Gamelan-Musik sowie
auf andere exotische Musik, die während der Weltausstellung dargeboten wurde,
mit Enthusiasmus. Tief beeindruckt waren u.a. Toulouse-Lautrec und Paul Gauguin.
Gauguin faszinierte seitdem die Vorstellung von einem naturnahen, ursprünglichen
Leben. Er reiste nach Tahiti; seine Berichte und von der exotischen Umgebung
inspirierten Bilder führten in Frankreich zu einer ausgeprägten Orientmode.
Zu den eifrigsten
Besuchern der Pariser Weltausstellung 1889 gehörte Claude Debussy. In der
Literatur seit 1894 bis in die Gegenwart wird die Bedeutung des javanischen
Einflusses für Debussys Gesamtschaffen jedoch sehr unterschiedlich eingeschätzt.
Einige – allerdings wenige – Autoren vertreten die These, Debussys Kompositionstechnik
stehe mit der Musik Javas in keinerlei Verbindung. Die überwiegende Zahl
der Autoren jedoch nimmt einen musikalischen Einfluss an. Es gibt aber erhebliche
Differenzen darüber, wie sich diese Beeinflussung konkret äußere. Dahlhaus
z.B. spricht diesem Einfluss eine nur geringe Bedeutung zu; er konstatiert
lediglich eine Übernahme melodischer Floskeln von exotischer Wirkung, ohne
dass der wesentliche Charakter der exotischen Musik Berücksichtigung gefunden
hätte. Léon Vallas stellt demgegenüber eine „influence essentielle“ fest.
Es gibt auch Autoren, die meinen, dass Debussy bereits vor der Pariser Weltausstellung
1889 eine Musik ähnlich der javanischen vorgeschwebt habe. Sie habe seinem
Wunsch entsprochen, sich von den traditionellen tonalen Bindungen und den
akademischen Regeln Europas zu befreien. Sie habe außerdem seine Ablösung
von Richard Wagner befördert. Gradenwitz meint im übrigen, dass Debussy die
Musik des Orients zum Teil missverstanden habe, indem er fälschlicherweise
geglaubt habe, sie sei – im Unterschied zur europäischen Musik – keinen Regeln
unterworfen und sie als Vorbild nahm bei seinem Streben nach einer formal
freien Musik (Gradenwitz 1977, S. 327). Gegenüber seinem Kompositionslehrer
Guiraud soll Debussy geäußert haben: „Il n’a a pas de théorie! Suffit
d’entendre. Le plaisir est la règle“ (Arndt 1993, S. 84). Für ihn zählten
weniger theoretische Überlegungen als das klangliche Resultat.
In der javanischen
und anamitischen (= vietnamesischen) Musik, so heben mehrere Autoren hervor,
habe Debussy vorgebildet gefunden, was ihm schon längst vorschwebte: „eine
Musik, die nur aus Atmosphäre, aus Klang und Nuancen zu bestehen schien,
in sich ruhend, schwerelos, von größter Freiheit und ohne jedes Pathos“
(Schmidt-Garre 1968, S. 31). Sie vermag „jeden Schatten einer Bedeutung auszudrücken,
ja sogar kaum bemerkbare Schattierungen, und lässt unsere Tonika und Dominante
wie Gespenster erscheinen“, schrieb Debussy in einem Brief (zit. nach Schmidt-Garre
1968, S. 31). Jahre später betonte er den Reichtum der Kontrapunkte javanischer
Gamelan-Musik gegenüber dem Kontrapunkt Palestrinas, der ihm „nur ein Kinderspiel“
zu sein schien. „Und wenn man, ohne die Voreingenommenheit des Europäers,
dem Reiz ihres Schlagwerks lauscht, muss man wohl zugeben, dass das unsere
nichts anderes ist als ein barbarischer Jahrmarktslärm" (zit. nach Schmidt-Garre
1968, S. 31).
Wichtigste zeitgenössische
Quelle zur Rezeption der javanischen Musik in Frankreich war zu Debussys
Zeit die aus Anlass der Pariser Weltausstellung 1889 vorgenommene Untersuchung
der „Danses javanaises“ des französischen Musikwissenschaftlers Julien Tiersot,
die 1889 veröffentlicht wurde. Nach der Beschreibung Tiersots setzte sich
das „Gamelang“ zusammen aus dem „rebab“ (= zweisaitiges Saiteninstrument),
dem „gambang“ (= eine Art Xylophon), dem „saron-barong“ (dem Metallophon
ähnlich), dem „bonang-ageng“ (einem Metallinstrument in hoher und tiefer
Lage, das zu den wichtigsten Instrumenten des Gamelan gehört) und verschiedenen
Arten und Größen von gestimmten Gongs und Trommeln. Außer dem rebab, dem
Saiteninstrument, werden alle Instrumente perkussiv gebraucht. Tiersot verglich
den Klang des Gamelan mit demjenigen von Glockengeläut. Er bestritt das Vorhandensein
von Regeln, die den Zusammenklang der javanischen Musik lenken, und hob die
wichtige Rolle des Zufalls, der den Zusammenklang bestimme, hervor. Nach
Tiersots Auffassung hatte der Bass in der Musik Javas keine Bedeutung für
den Zusammenklang (wie beispielsweise in unserem harmonischen Denken); als
Beweis galt ihm u. a. der die Tonalität verschleiernde Einsatz des tiefen
Gongs – große, tiefe Gongs haben unbestimmte Tonhöhen. Harmonische Verbindungen
sah er nur zwischen den Stimmen mittlerer und hoher Lage (Arndt 1993, S.
49ff.).
Eine weitere Quelle
zur zeitgenössischen Rezeption javanischer Musik während der Pariser Weltausstellungen
1889 waren Klaviertranskriptionen exotischer Musik von Louis Benedictus.
Sie erschienen 1889 unter dem Titel „Les musiques bizarres à l’Exposition“.
Die Sammlung enthielt Transkriptionen algerischer, persischer, javanischer
u.a. außereuropäischer Musik, die während der Weltausstellung gespielt wurde
(Arndt 1993, S. 63).
Als weitere Kriterien
javanischer Musik galten außer den bereits genannten: „primäre“ Klangformen,
d.h. in sich ruhende, statische, spannungsfreie klangliche Formen. Dieser
Charakter wurde auf das Fehlen von Halbtonschritten zurückgeführt (z.B. das
Fehlen von Leittönen, die harmonische Bewegung und Zielstrebigkeit signalisieren).
Die Musik basierte auf der pentatonischen Leiter und – ebenfalls anhemitonischen
– Ganztonleitern. (In beiden Fällen handelt es sich um Annäherungen an die
javanischen / balinesischen Tonskalen Pelog und Slendro, aber nicht um Übereinstimmungen
damit.) – Das Satzbild javanischer Musik sah nach Tiersot folgendermaßen
aus: Das Thema erscheint in mittlerer Lage in folgenden klanglichen Kombinationen:
Über ihm liegt der „contrepoint“ in schnellen Notenwerten; in mittlerer Lage
erscheint ein rhythmisierter Orgelpunkt oder ein aus 2–3 Noten bestehendes
orgelpunktartiges Ostinato; die verdoppelnde Betonung der Schwerpunkte des
Themas. Hinzu treten die tiefen Gongs mit abschnittsgliedernder Funktion
sowie verschiedene Trommelrhythmen. Die gleichförmig fließenden Rhythmen
zeigen nach Tiersot oftmals Synkopen- oder Triolenbewegung. Als Charakteristikum
javanischer Tänze nennt er außerdem: Einleitende Phrase, gespielt vom „rebab“;
mit dem Beginn des Tanzes Einsetzen aller Instrumente; nach einem vorwiegend
ruhigen Tempo am Schluss Beschleunigung (Arndt 1993, S. 55ff.)..
In seiner Untersuchung
des Einflusses der javanischen Gamelan-Musik auf Kompositionen Claude Debussys
gelangt Jürgen Arndt zu folgenden Ergebnissen:
Es sei in einigen
Werken Debussys ein spezifisch javanischer Einfluss festzustellen. Doch spiele
die fernöstliche Musik in quantitativer Hinsicht eine untergeordnete Rolle:
Lediglich drei Klavierstücke zeigen nach seiner Auffassung eine Verarbeitung
javanischer Einflüsse: „Pagodes“ (aus „Estampes“), „Cloches à travers les
feuilles“ (aus „Images“ II) und „Voiles“ (aus „Préludes“ I). Einige andere
Werke enthalten jeweils nur wenige auf die Gamelan-Musik zurückzuführende
Takte. So sei der Einfluss der Gamelan-Musik auf Debussy zwar nicht grundlegend
gewesen, doch habe er eine wichtige Bedeutung für dessen Schaffen gehabt.
Die javanische Gamelan-Musik
war nicht die einzige exotische Musik, die Debussy beeinflusste. Es gab
außerdem Beeinflussungen durch
-
die spanische Folklore,
insbesondere die andalusische Flamenco-Musik (1903 „La soirée dans Grenade“
aus „Estampes“ für Klavier; 1910–12 „La puerta del vino“ aus „Préludes II“
für Klavier).
-
den amerikanischen
Ragtime (1906–08 „Golliwog Cakewalk“ aus „Children’s Corner“; 1910–12 „General
Lavine“ – eccentric aus „Preludes II“)
Einige Kompositionen
Debussys verdeutlichen durch ihre Titel eine Bindung an exotische Sujets:
(außer den bereits genannten „Pagodes“) „Et la lune descend sur le temple
qui fut“, „Terrasse des audiences au clair de lune“, „Danse sacrée et danse
profane“, „Syrinx“, „Ibéria“, „Mandoline“, „Lindaraja“; „Épigraphes antiques“
u.a.
Carl Dahlhaus hebt
u. a. die folgenden charakteristischen Merkmale des musikalischen Exotismus
des 19. Jahrhunderts, d.h. der Zeit vor Debussy, hervor: Pentatonik, dorische
Sexte, mixolydische Septime, übermäßige Sekunde, übermäßige Quarte, Chromatik,
Bordun, Ostinato u.a. Dabei äußere sich der Exotismus als Abweichung von
den für europäische Kunstmusik geltenden ästhetisch-kompositionstechnischen
Normen.
Bei der Rezeption
exotischer Musik im Schaffen Debussys handelt es sich nach Arndts Auffassung
hingegen weder um reine Nachahmung noch um die Übernahme melodischer Merkmale,
um pittoreske Reizmomente zu erzielen. Bei Debussy gebe es – so Arndt – einen
grundlegenden Unterschied zur exotischen Musik des 19. Jahrhunderts: Bei
ihm sei das Exotische nicht Abweichung von der Norm, sondern integrierender
Bestandteil der Komposition und dabei nicht mehr unbedingt an ein exotisches
Sujet gebunden.
In der Literatur
über Debussy werden oftmals auch Einflüsse russischer Musik erwähnt. 1881,
im Alter von 19 Jahren, hielt sich Debussy in Russland auf, wohin er von
einer reichen Mäzenatin eingeladen worden war. Barraqué vermutet, dass Debussy
auf dieser Reise keinen Kontakt zu der „Gruppe der Fünf“ bzw. dem „Mächtigen
Häuflein“ (Mussorgsky, Borodin, Balakirew, Cui, Rimsky-Korssakow), den Begründern
eine russischen nationalen Schule, gehabt habe. Der Kontakt zu der musikalisch
konservativen Familie von Meck habe eine solche Annäherung verhindert: Sie
huldigte Tschaikowsky, der für die „Gruppe der Fünf“ ein „rotes Tuch“ war.
Vermutlich hat
Debussy die neuen russischen Werke in Paris kennengelernt. Im Rahmen der
Pariser Weltausstellung 1889 dirigierten Rimsky-Korssakow und Glasunow eigene
Werke und Kompositionen von Borodin und Mussorgsky. In der Folge wurden die
neueren russischen Komponisten allmählich in Frankreich bekannt und als
Gegengewicht gegen den Einfluss Richard Wagners auf die französische Musik
begrüßt. 1910 lernte Debussy – damals 48 Jahre alt – in Paris den zwanzig
Jahre jüngeren Strawinsky nach einer Aufführung von Diaghilews „Feuervogel-Ballett“
kennen. 1911 hörte er „Petruschka“ und „Le Sacre du Printemps“.
Die traditionelle (keineswegs unangefochtene) Aufteilung
der Musikwissenschaft, die der Berliner Schule der Systematischen Musikwissenschaft
Erich Moritz von Hornbostels und Curt Sachs’ entstammt, ist folgendermaßen:
1) Musikgeschichte
2) Systematische Musikwissenschaft
3) Musikalische Volks-
und Völkerkunde
4) Musiksoziologie
5) Angewandte Musikwissenschaft
Musikethnologie
In der dieser Aufteilung der Musikwissenschaft
werden Musikalische Volks- und Völkerkunde als zusammengehörig aufgeführt.
Ursprünglich jedoch gibt es zwischen diesen beiden Bereichen der Musikwissenschaft
eine starke Trennung: Die ältere Volksliedforschung bzw. Musikalische Volkskunde
konzentrierte sich auf „eigene“, heimische volksmusikalische Überlieferungen,
während die Musikalische Völkerkunde vorzugsweise lokal begrenzte Traditionen
in entfernten Regionen untersuchte.
Kunde von der Musik fremder Länder erhielt man
in Europa erstmals aus Berichten von Forschungsreisenden im 16. und 17.
Jahrhundert. Umfassendere Monographien einzelner Musikkulturen erschienen
im 18. und 19. Jahrhundert, z.B.:
-
1768 Jean-Jacques Rousseau, „Dictionnaire de musique“
(enthält im Anhang vier Beispiele exotischer Musik)
-
1779 Jean .Joseph Marie Amiot (ein Jesuit), „Mémoire
de la musique des Chinois, tant anciens que modernes“
-
1792 William Jones, „On the Musical Modes of the
Hindus“. (Jones hielt sich lange Zeit
in Kalkutta auf.)
-
1842 Raphael
Georg Kiesewetter, „Die Musik der Araber nach Originalquellen dargestellt“,
Leipzig: Breitkopf & Härtel
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann eine
systematische musikwissenschaftliche Untersuchung. Der amerikanische Erfinder
Thomas Alva Edison (auch als Erfinder der Glühlampe bekannt) entwickelte
1877 den Phonographen, einen Vorläufer des Grammophons. Damit machte Walter
Fewkes 1889 die ersten Phonogramme von Indianermelodien. In Europa wurden
die Musikeinspielungen auf Wachswalzen seit 1899 im Phonogrammarchiv der Kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften in Wien sowie seit 1900 von Stumpf und Hornbostel
im Psychologischen Institut Berlin gesammelt.
Als Begründer der um 1900 entwickelten Fachrichtung
„Vergleichende Musikwissenschaft“ gelten Erich Moritz von Hornbostel
(1877–1935) und Curt Sachs (1881–1959).
Erich Moritz von Hornbostel schuf gemeinsam mit Curt Sachs auch
eine Systematik der Musikinstrumente: Unterteilung in Idiophone, Membranophone,
Chordophone und Aerophone; in neuester Zeit kamen die Elektrophone hinzu.
Stumpf und v. Hornbostel nannten die von ihnen
um 1900 entwickelte Fachrichtung „Vergleichende Musikwissenschaft“. Vergleiche
einzelner Stilelemente der Musikkulturen sollten Übereinstimmungen und Abweichungen
erkennen lassen und Aufschlüsse geben über mögliche weltweite Kulturzusammenhänge.
Die spätere Musikethnologie hingegen betont das Eigenständige einer jeden
Musikkultur.
Die Vergleichende Musikwissenschaft sah in der
Musik gegenwärtiger „Naturvölker“ weniger das gegenwärtige, historisch bedingte
Erscheinungsbild als vielmehr die Überlieferung altzeitlicher Zustände, die
als Vorstufen der Musikgeschichte der Menschheit angesehen wurden. Es dominierte
die Vorstellung von einer kontinuierlichen Entwicklung aus rohen Anfängen
bei „Naturvölkern“ bis zum „Hochgebirge“ der modernen europäischen Tonkunst.
Man glaubte, man könne durch das Studium „primitiver“ Musik die ferne Vergangenheit
der europäischen Musik entschleiern. 1911 veröffentlichte Carl Stumpf sein
Buch „Die Anfänge der Musik“ (Nachdruck Hildesheim, New York: Olms, 1979).
In der Musikethnologie werden unterschieden (vgl.
Art. „Musikethnologie“ in MGG, Sachteil, Bd. 6, 1997, Sp. 1259ff.):
die Berliner Schule mit Erich Moritz
von Hornbostel, Otto Abraham, Curt Sachs, Robert Lachmann, George Herzog,
M. Kolinski, Fritz Bose, Hans Hickmann, Marius Schneider, Walter Wiora, Heinrich
Husmann und Jaap Kunst.
die Wiener Schule, die von Robert
Lach (1874–1958) begründet war, mit Robert Lach, L. Hajek, Abraham Zebi Idelsohn,
S. Nadel, W. Graf.
Die amerikanische Schule der Musikethnologie:
Theodore Baker, B.I. Gilman, Alice Fletcher, Fr. Boas, Frances Densmore,
H.H. Roberts, George Herzog. Der eigentliche Begründer war der Anthropologe
Fr. Boas. Herzog führte die Methode der Berliner Schule in Amerika ein und
verband sie mit der von Boas entwickelten Arbeitsweise, wonach die Musik
einzelner Stämme möglichst aus der unmittelbaren Anschauung und in ihrer
Einbettung in das soziale und religiöse Stammesleben zu erforschen sei.
Die erste zusammenfassende musikethnologische Darstellung
enthält die „Histoire générale de la musique“ des belgischen Musikforschers
und Komponisten Francois-Joseph Fétis (5 Bände, Paris 1869–76, geht
bis ins 15. Jahrhundert zurück). In der Vorrede zu einer anderen sehr umfangreichen
Publikation, der zweiten Auflage der „Biographie universelle des musiciens“,
polemisiert Fétis in aller Schärfe gegen die damals verbreitete Anwendung
der Fortschrittsdoktrin auf die Musikgeschichte, nach der alle musikalischen
Ausdrucksformen des Menschengeschlechts als Vorstufen der neuzeitlich-abendländischen
Musik galten. Demgegenüber meinte Fétis, dass Musikgeschichte nicht eine
ständige Entwicklung zu Höherwertigem sei, sondern dass Musik sich im historischen
Verlauf bloß umbilde („la musique se transforme“). Die „Histoire générale
de la musique“, die Fétis nicht vollendet hat, lässt erkennen, dass der Autor
die europäisch-abendländische Musikgeschichte als eine unter vielen Sonderfällen
auffasste und nicht als Paradigma, an dem andere Musikkulturen zu messen
seien (Blaukopf 1982, S. 62f.).
Die Völker, deren Studium sich die Ethnologie –
auch die Musikethnologie – widmete, wurden bei uns lange Zeit als „Wilde“
bezeichnet. Es wird angenommen, dass „wild“ ursprünglich die Bedeutung hat
von „zum Wald gehörend“, „in den Wäldern lebend“. Das heißt, man verstand
unter einem „Wilden“ jemanden, der nackt und ohne jegliche Kultur in den
Wäldern wohnte (Kohl 1993, S. 17). Im 15. und 16. Jahrhundert wurde die Bezeichnung
„Wilde“ für die Bewohner der neuentdeckten Länder jenseits des Atlantischen
Ozeans verwendet. Einige Entdecker Amerikas glaubten, dass sich die Ureinwohner
auf einer Stufe mit den in den Wäldern lebenden wilden Tieren befänden.
Diese Einstufung diente schließlich auch der Legitimation des europäischen
Kolonialismus.
Der Begriff „Wilde“ wurde dann auch auf Völkerschaften
anderer Kontinente ausgedehnt. Der Begriff der Zivilisation wurde hingegen
zum Komplement der Bezeichnung „Wilde“. Die Europäer betrachteten sich als
gesittete, zivilisierte Völker und sahen ihre Aufgabe darin, den ungesitteten
„Wilden“ die Segnungen ihrer Zivilisation zu bringen (Kohl 1993, S. 19).
Andererseits entwickelte sich zeitweilig auch die idealisierende Vorstellung
vom „bon sauvage“, dem „guten Wilden“, so etwa bei Rousseau.
Im 19. Jahrhundert nahm man an, dass die „Wilden“
auf einer früheren Stufe der Menschheitsentwicklung stehengeblieben seien.
Man nannte sie nun in Anlehnung an das lateinische Wort „primus“ „Primitive“.
Diese Bezeichnung war zunächst wertneutral, doch erhielt sie sehr bald eine
pejorative Bedeutung. Auch die Ethnologie, die sich in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts als universitäre Disziplin zu konstituieren begann,
bediente sich dieses Begriffs.
In ähnlicher Bedeutung wurde der Begriff „Naturvölker“
angewendet. Sie wurden in der frühen deutschen Völkerkunde den „Kulturvölkern“
entgegengesetzt. Beiden wurden jeweils unterschiedliche Eigenschaften zugesprochen:
Während die europäischen „Kulturvölker“ in einem lang andauernden geschichtlichen
Prozess gelernt hatten, die äußere und innere Natur zu beherrschen, schienen
die auf einer frühen historischen Stufe verharrenden „Naturvölker“ ihrer
natürlichen Umwelt und ihren natürlichen Trieben ausgeliefert zu sein.
Auch unter Musikwissenschaftlern dominierten solche
Vorstellungen. Der Fachbereich Musikgeschichte blieb begrenzt auf europäische
bzw. westeuropäische Musikgeschichte. Von vielen anderen Kulturen nahm man
an, sie hätten keine geschichtliche Entwicklung.
Das begriffliche Gegensatzpaar „Naturvolk“ und „Kulturvolk“
ist, wie man inzwischen weiß, wissenschaftlich nicht haltbar und wird daher
nicht mehr von den Ethnologen gebraucht. Es gibt keine menschliche Gemeinschaft,
die nicht irgendwelche kulturellen Leistungen hervorgebracht hätte.
Bei den „Naturvölkern“ nahm man früher an, sie
seien wegen ihre Verharrens in einem Naturzustand geschichtslos. Heute ist
man sich darüber im klaren, dass sie keineswegs geschichtsloser sind als
die europäischen, „daß sie nicht eine frühere Stufe der Gattungsentwicklung
repräsentieren und daß sie der ursprünglichen Natur des Menschen auch nicht
näherstehen als wir“ (Kohl 1993, S. 22). Ihr Verhältnis zur natürlichen
Umwelt ist lediglich andersartig als das der „Kulturvölker“: „Geht man der
technischen Ausstattung und der Kenntnis der Naturgesetze aus, dann sind
die ... ‚Naturvölker‘ von ihrer Umwelt tatsächlich abhängiger als die modernen
Industriegesellschaften. Umgekehrt gilt für letztere jedoch auch, daß sie
die Unabhängigkeit von der äußeren Natur heute durch die nicht minder große
Abhängigkeit des modernen Menschen von der ihm zu einer ‚zweiten Natur‘ gewordenen
Technik eingetauscht haben“ (Kohl 1993, S. 22).
Die heutige ethnologische Musikforschung betrachtet
die Musik der „Naturvölker“ und der Hochkulturen Asiens, Amerikas und Europas
als Produkte historischer Entwicklungen. Sie versucht, die Musik als Teilgebiet
der materiellen und geistigen Gesamtkultur zu begreifen. Seit ca. 1940 wurde
der Begriff „Ethnomusicology“ bzw. „Musikethnologie“ für die Wissenschaft
von der Musik der außereuropäischen Völker gebräuchlich.
Mit den technischen Möglichkeiten der Forschung
und differenzierteren Untersuchungen wandelte sich das Urteil über die Eigenart
und den Entwicklungsstand außereuropäischer Musik. Der deutsche Physiker
und Physiologe Hermann von Helmholtz (1821–1894) verfasste
das fundamentale Buch zur musikalischen Akustik: „Die Lehre von den Tonempfindungen
als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“ (1863). Eine solche
naturwissenschaftliche Untersuchung der physiologischen Grundlagen der Musik
konnte die Fortschrittsideologie und den Ethnozentrismus der Musikwissenschaft
erschüttern, indem die Frage geklärt wurde, welche „Elemente der Musik“ als
naturgegeben und welche als dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen anzusehen
seien. Helmholtz stellte u.a. fest, dass das Dissonanzempfinden auch von
Geschmack und Gewöhnung abhänge, dass sich die Grenze zwischen Konsonanzen
und Dissonanzen vielfältig geändert hätten; auch dass das System der Tonleitern,
der Tonarten und deren Harmonien nicht nur auf unveränderlichen Naturgesetzen
beruhe, sondern dass es zum Teil auch die Konsequenz ästhetischer Prinzipien
sei, das Veränderungen unterworfen ist.
„Die Feststellungen von Helmholtz markieren einen
Bruch in der Konzeption der Musikgeschichte, einen Bruch mit jener vorgefaßten
Fortschrittsidee, die der europäisch-abendländischen Kultureitelkeit so schmeichelt
und die paradoxerweise auch wieder geeignet ist, das Verständnis dieser europäisch-abendländischen
Musik zu erschweren. Diese Fortschrittsidee sucht alles Kunstgeschehen der
europäischen Vergangenheit ebenso wie das in außereuropäischen Regionen
als bloße Präludien aufzufassen, als Vorstufen zur Vollkommenheit, in deren
Besitz Europa letztlich gelangt ist“ (Blaukopf 1982, S. 65).
An Helmholtz knüpfte der englische Jurist und Philologe
Alexander John Ellis (1814–1890) an. Dessen Hauptinteresse
galt lange Zeit phonetischen Untersuchungen der englischen Sprache. Sie
machten ihn bald mit Helmholtz’ Schriften vertraut. Im Jahr 1875 publizierte
er eine mit eigenen Ergänzungen versehene englische Übersetzung von Helmholtz’
Schrift „Die Lehre von den Tonempfindungen“. Ellis wandte sich der Prüfung
und Messung verschiedener Tonsysteme zu. Das Ergebnis war die 1884 erschienene Schrift „Tonometrical
Observations on Existing Non-Harmonic Scales“ (späterer Titel: „On the Musical
Scales of Various Nations“). In ihr
stellte Ellis fest, dass es eine Vielfalt verschiedener Tonsysteme gebe und
dass sehr verschiedene, sehr künstliche und keineswegs natürliche Tonskalen
existieren. Ellis, der als Begründer musikalischer Völkerkunde gilt, führte
ein neues Maßsystem für die Messung von Intervallen ein: die Maßeinheit Cent.
1 Oktave umfasst 1200 Cents, d.h. jeder temperierte Halbton 100 Cents. Durch
dieses Meßsystem wurde es möglich, kleinste Intervalle in ganzen Zahlen darzustellen
und die Unterschiede nahe beieinander liegender Intervalle deutlich zu machen
(z.B. entspricht die gleichschwebend temperierte Quinte 700 Cents, die reine
Quinte 702 Cents). Helmholtz’ fundierte naturwissenschaftliche Untersuchung
erschütterte die Fortschrittsideologie und den Ethnozentrismus der Musikwissenschaft
(vgl. Blaukopf 1982, S. 66ff.).
„Spätestens von da an begann auch die Musikwissenschaft
zu unterscheiden zwischen dem, was etwa nach unserem Wissensstand als richtig
bezeichnet werden kann, und dem, was in einem bestimmten kulturellen Kontext
Gültigkeit hat, d.h. als ‚natürlich und logisch‘ empfunden wird“ (Blaukopf
1982, S. 68). Man sah ein, dass Vergleiche einzelner Phänomene, z.B. melodischer
Fügungen, rhythmischer Strukturen oder tonaler Systeme, aus verschiedenen,
oft weit voneinander entfernten Kulturen zu keinem tieferen Verständnis der
verschiedenen Musikkulturen führten.
Trotz neuer Erkenntnisse hielten selbst namhafte
Musikwissenschaftler an der eurozentrischen Auffassung sowie an der Idee
einer zweckgerichteten Weltordnung fest, z.B. Hugo Riemann, der in seinem „Handbuch der Musikgeschichte“ schreibt:
„Hier ist ein ernster Warnruf am Platz, sich nicht den Blick durch die exakten
Forscher der naturwissenschaftlichen Methoden trüben zu lassen. Die frappante
Übereinstimmung der in Zeitabständen von vielen Jahrhunderten gleichermaßen
von den Chinesen, Griechen und den Völkern des europäischen Westens gefundenen
Teilung der Oktave in zwölf Halbtöne ... ist denn doch ein historisches Faktum,
das man mit ein paar mangelhaft gebohrten Pfeifen aus Polynesien oder mit
fragwürdigen Gesangsleistungen farbiger Weiber nicht über den Haufen rennt“
(Riemann 1904, VI; zit. nach Blaukopf 1982, S. 335).
Die heutige ethnologische Musikforschung betrachtet
die Musik sowohl der „Naturvölker“ sowie der Hochkulturen Asiens, Amerikas
und Europas als Produkte langer historischer Entwicklungen. Sie versucht
darüber hinaus, die Musik als Teilgebiet der materiellen und geistigen Gesamtkultur
zu begreifen. Seit ca. 1940 wurde der Begriff „Ethnomusicology“ bzw. „Musikethnologie“
für die Wissenschaft von der Musik der außereuropäischen Völker gebräuchlich.
In den Jahren um 1960 empfing die amerikanische
Ethnomusikologie wichtige Impulse aus der Ethnologie bzw. Anthropologie.
Besonders einflussreich war Alan P. Merriam, der 1964 „The
Anthropology of Music“ veröffentlichte. Aufgabe der Ethnomusikologie ist
nach Merriam „the study of music in culture“. Musik gilt dabei als das Resultat
menschlicher Verhaltensvorgänge („human behavioral process“) innerhalb einer
Kultur (Art. „Musikethnologie“ in MGG, Sachteil, Bd. 6, 1997, Sp. 1280f.).
In dieser Auffassung ist die Musik nur eine unter vielen Kulturerscheinungen.
In den USA gab es neben dieser ethnologischen eine mehr musikalische Ausrichtung.
Ihr bekanntester Repräsentant ist Mantle Hood, ehemals Direktor
des Institute of Ethnomusicology der University of California, Los Angeles.
Hood bestreitet nicht den Nutzen von Nachbargebieten der Musikwissenschaft;
nach seiner Auffassung ist jedoch das Sich-Einleben durch praktisches Musizieren
eine grundlegende Voraussetzung für das Verständnis fremder Musik (Art. „Musikethnologie“
in MGG, Sachteil, Bd. 6, 1997, Sp. 1270)
In jüngster Zeit treten mehr und mehr einheimische
Wissenschaftler hervor, die für uns fremde Musikkulturen aus der Perspektive
von „Insidern“ untersuchen und so zu deren Verständnis beitragen.
Seit dem 20. Jahrhundert ist eine globale Musikgeschichte,
d.h. die Untersuchungen musikkultureller Interdependenzen naheliegend. Der
Zusammenhang aller oder vieler Kulturen ist nicht ursprünglich gegeben, sondern
Resultat einer Entwicklung, die im 20. Jahrhundert ihren bisherigen Höhepunkt
erreicht hat. Blaukopf spricht von einer „weltweiten Hybridisierung musikalischer
Praktiken“, für die es in der bisherigen Menschheitsgeschichte kaum eine
Parallele gebe (Blaukopf 1982, S. 339). Mit „Hybridisierung“ meint er die
Vermischung von Musikkulturen. Unter der beherrschenden Einwirkung abendländischer
Musik finden im 20. Jahrhundert in vielen Musikkulturen Prozesse der Verschmelzung
und Umwandlung statt. Die „Akkulturation“ bildet das zentrale Thema einer
Universalgeschichte der Musik seit dem 20. Jahrhundert. Die Ethnomusikologie
hat diesen Prozess zu ihrem Forschungsgegenstand gemacht und die Reaktionen
auf den abendländischen Einfluss untersucht.
Viele Musikethnologen beklagen die Veränderungsprozesse
der Gegenwart und sehen durch sie die autochthonen musikalischen Praktiken
vieler Kulturen bedroht oder gar vernichtet. Bei der Erörterung der möglichen
Folgen der Akkulturation bzw. des westlichen Einflusses auf die Musiken der
sog. Dritten Welt wird oft der Begriff der „kulturellen Identität“ ins Spiel
gebracht. Dabei herrschte oft die einseitig pessimistische Auffassung, dass
Traditionen vom Untergang bedroht seien. Zu fragen ist jedoch auch, ob tatsächlich
alles, was die „kulturelle Identität“ ausmacht, bewahrenswert ist. „Die Spottverse
auf Verbrecher, die man in Europa noch bis ins 19. Jahrhundert bei deren
öffentlicher Hinrichtung zu singen pflegte, mögen damals zur ‚kulturellen
Identität‘ einiger Nationen gehört haben; dennoch sind die meisten Europäer
sicherlich stolz darauf, daß mit dem nationalen Ritual der Hinrichtung auch
die einfallsreichsten Spottexte und Hinrichtungsmelodien in Vergessenheit
geraten sind“ (Blaukopf 1982, S. 353).
„Kulturelle Identität“ wird oft als etwas Statisches,
nicht als etwas Dynamisches (miss)verstanden. Der Gedanke vieler Musikethnologen,
dass Traditionen zu bewahren und zu schützen seien vor (als zerstörerisch
empfundenen) Einflüssen der Gegenwart, verträgt sich mit der eigentlich längst
überholten Vorstellung von der „Geschichtslosigkeit“ von Völkern oder ethnischen
Gruppen, jedoch kaum mit den tatsächlich stattfindenden politischen, gesellschaftlichen,
ökonomischen u. a. Veränderungsprozessen. So hat ein Musiker und Musikschriftsteller
aus Kamerun im Jahr 1979 bei einem Symposion die Frage gestellt, wie es möglich
sein solle, dass Afrika sich politisch und sozial entwickelt und dabei die
traditionelle Musikkultur beibehält (Blaukopf 1982, S. 353 f.). „Was einer
schwarzafrikanischen Nation im musikalischen Bereich zum Nutzen gereicht,
sollte dieser Auffassung zufolge nicht von noch so wohlmeinenden Musikethnologen
bestimmt werden, sondern von den Betroffenen selbst. Ihnen steht die Entscheidung
darüber zu, welches Maß an Modernisierung ihnen frommt“ (Blaukopf 1982, S.
354). Die Akkulturation wird von vielen Musikern der „Dritten Welt“ nicht
als ein erlittenes Schicksal oder Verlust betrachtet, sondern als Bereicherung
und Herausforderung. Sie verläuft im übrigen nicht nur in eine Richtung.
So ist beispielsweise auch zu fragen, welchen Einflüssen die westliche Musik
unter den Bedingungen globaler Kommunikation ausgesetzt ist.
Die Frage, wie Musiken fremder Kulturen gehört werden
und wie sich unerwartete musikalische Erfahrungen in den eigenen Erfahrungshorizont
einpassen, ist noch wenig untersucht worden (Blaukopf 1982, S. 350). „Lebensgebundene
Umgangsmusik“ muss sich nicht an dem uns gewohnten Begriff der Spieldauer
orientieren. Jeder Versuch, solche Musik aus ihrem situativen Zusammenhang
zu lösen und sie „an sich“ darzustellen (d.h. ohne Bezugnahme auf die nichtmusikalischen
Elemente des Handlungsablaufs), verstößt gegen ihr Wesen. Selbst der Versuch,
traditionelle Musik auf Tonträgern zu bewahren, stößt auf Grenzen. Die musiktechnische
Edition bewirkt nicht nur Bewahrung, sondern auch Entstellung. Aus situationsgebundener
Musik wird „Musik an sich“; aus „zeitloser“ Musik wird eine Darbietung, die
dem Hörer Anfang und Ende suggeriert.
Viele Tonträger präsentieren die Musik nicht so,
wie sie in lebendigen Aufführungen gehört wird, sondern so, wie nichtwestliche
Musik dem westlichen Hörer typischerweise in Tonaufnahmen dargeboten wird
(Blaukopf 1982, S. 351). „Die Errungenschaft der technischen Aufzeichnung
von Musik wirkt also auch auf die traditionellen Kulturen selbst ein, denn
sie begünstigt situationsungebundene Hörweisen und drängt dem musikalischen
Ablauf eine ästhetisch-artifizielle Markierung von Anfang und Ende auf,
die der traditionellen Musizier- und Hörweise oft wesensfremd ist. Gleichzeitig
bewirken die technischen Medien jedoch die Herausbildung einer neuartigen,
technisch geprägten Lebensgebundenheit der Musik“ (Blaukopf 1982, S. 351).
Die Errungenschaft der technischen Aufzeichnung
von Musik bedeutet einen Eingriff in traditionelle Kulturen, indem sie sie
mit uns gewohnten Hör- und Darbietungsweisen verbindet. Solche Veränderungen
sind jedoch nicht als zerstörerisch zu betrachten, sondern sie geben auch
neue Impulse: So bewirken die technischen Medien die Herausbildung einer
neuartigen, technisch geprägten Lebensgebundenheit der Musik (vgl. Blaukopf
1982, S. 351).
Die Ethnologie hat sich ursprünglich mit dem kulturell
Fremden beschäftigt. „Je mehr sich eine bestimmte Lebensgemeinschaft von
Menschen von unserer Kultur unterschied, desto eher schien sie dazu prädestiniert,
zum Gegenstand ethnologischer Forschung zu werden“ (Kohl 1993, S. 26). Inzwischen
hat sich die Sichtweise der Ethnologie verändert. Ihr Interesse richtet sich
heute auch auf bestimmte soziale Erscheinungen in der eigenen Kultur (Kohl
1993, S. 92 f.). Viele Ethnologen der Gegenwart engagieren sich für eine
Aufhebung der Trennung zwischen Völkerkunde und Volkskunde.
Die Hinwendung zum „Eigenen“ resultierte – nur scheinbar
paradoxerweise – aus der Fremdheit des ethnologischen Gegenstandes. Die
Auseinandersetzung mit dem Fremden forderte nämlich gleichzeitig die Reflexion
des eigenen Ausgangspunktes heraus. Was ohne die Konfrontation mit dem Fremden
evtl. als „selbstverständlich“ und „natürlich“ erscheinen könnte, wurde durch
die Auseinandersetzung mit dem Andersartigen verfremdet und als historisch
und gesellschaftlich bedingt erkannt. So werden internalisierte Normen in
Frage gestellt. Fremderfahrung und Selbsterfahrung finden so gleichzeitig
statt. Innerhalb der Ethnologie entwickelte sich eine „Denkweise, die sich
aufdrängt, wenn der Gegenstand ein ‚anderer‘ ist und uns eine Wandlung unserer
selbst abverlangt... es geht darum, zu lernen, wie man das, was unser ist,
als fremd, und das, was uns fremd ist, als unsriges betrachtet“ (der französische
Philosoph Maurice Merleau-Ponty, zit. nach Kohl 1993, S. 95).
Die verfremdende Sichtweise der Ethnologie hat
sich auf andere Wissenschaften, die ihr benachbart sind, ausgewirkt: z.B.
auf die Soziologie, die Volkskunde; auch die Geschichtswissenschaften mit
der Subdisziplin der „Oral History“, die sich mit den Auswirkungen historischer
Ereignisse auf das Alltagsleben von Menschen beschäftigt (Methoden: Zeugenbefragungen,
Interviews). So wurden traditionelle Fachgrenzen überschritten.
Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Musikalischer Volkskunde und Musikethnologie. Unterteilte letztere bisher die Welt in verschiedene nebeneinander existierende ethnische Gruppen und waren ihre Untersuchungsobjekte vorzugsweise lokal begrenzte Traditionen in entfernten Regionen, so konzentrierte sich die ältere Volksliedforschung bzw. Musikalische Volkskunde auf heimische volksmusikalische Überlieferungen. Die multinationale und multikulturelle Zusammensetzung der Gesellschaft in der Gegenwart verlangt eine Horizontverschiebung in beiden wissenschaftlichen Disziplinen durch deren Kooperation. Einige Ethnologen und Volkskundler haben ihr Augenmerk auf Erscheinungsformen ausländischer Musikkultur im eigenen Land gerichtet. Seit den siebziger Jahren nahm die Musikethnologie an der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Max Peter Baumann Kontakt mit in Berlin lebenden Musikern unterschiedlicher Kulturen auf und untersuchte deren Musik. Darauf folgten in den achtziger Jahren ähnliche Projekte, die sich mit türkischer Musik in Berlin befassten. 1988/89 wurde am Internationalen Institut für Vergleichende Musikstudien und Dokumentation (IICMSD) eine Untersuchung der internationalen Berliner Musikszene (Brandeis / Brandes / Dunkel / Lee 1990) durchgeführt. Im Rahmen eines kleiner dimensionierten Projekts des Instituts für Musikalische Volkskunde der Universität zu Köln untersuchte und dokumentierte Raimund Hegewald 1987 die Aktivitäten von ausländischen Musik- und Folkloretanzgruppen verschiedener Nationalitäten im Raum Köln (Hegewald 1992). In allen diesen Fällen gilt das Interesse kulturellen Traditionen, die aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und in einer veränderten Umgebung Transformationsprozessen unterworfen sind.
Lange Zeit wurde außereuropäische
Musik nur durch die Brille europäischer Kunstbetrachtung wahrgenommen. Berlioz
beschimpfte sie als „Katzenmusik“ (Berlioz 1851), und sie wurde – u.a. von
Wissenschaftlern – lange Zeit als „Musik der Naturvölker“ oder „Folklore“
abgetan. Aber es gab auch Kritik an solchen hierarchischen Kulturvorstellungen:
In den 1970er Jahren trat z.B. der Historiker, Ethnologe und Musikwissenschaftler
Alain Daniélou als Ankläger eurozentristischer Sichtweisen auf. Er wandte
sich u.a. gegen den diskriminierenden Begriff Folklore (auch in bezug auf
europäische Musik) und stellte unsere gewohnte Einteilung in Volks- und Kunstmusik
in Frage.
In der bundesrepublikanischen
Pädagogik wurden seit ca. 1970 wurden Rassismus und Eurozentrismus thematisiert.
U.a. in der seit den sechziger Jahren einsetzenden Auseinandersetzung mit
der nationalsozialistischen Vergangenheit wurden pädagogische Zielvorstellungen
reflektiert, diskutiert und neu formuliert. In diesem Zusammenhang wurden
die alten und neuen Schulbücher ideologiekritisch analysiert und neues Unterrichtsmaterial
erarbeitet. Die Revision betraf vor allem die Inhalte der Fächer Geschichte,
Sozialkunde und Erdkunde. Analysen gelangten zu dem Resultat, dass die „Dritte
Welt“ in vielen Büchern als „Restwelt“ dargestellt wird und die Wertvorstellungen
und Interessen der eigenen Gesellschaft bei der Betrachtung und Beurteilung
des Fremden dominierten. In den Lehrplänen der Bundesrepublik wurde damals
die Behandlung der „Dritten Welt“ in diesen Fächern verankert.
In der Musikpädagogik
wurde seit den 1970er Jahren zunehmend außereuropäische Musik behandelt.
Besonders nachhaltig setzte sich Siegmund Helms für die Einbeziehung außereuropäischer
Musik in den Schulen ein. Die Zeitschrift „Musik und Bildung“ brachte im
Oktober 1979 ein Themenheft „Außereuropäische Musik im Unterricht“ heraus.
Seit den fünfziger Jahren
hatte es in der Bundesrepublik Deutschland entscheidende demographische
Veränderungen gegeben. Weil Arbeitskräfte fehlten, hatte die Bundesrepublik
1955 mit Italien die erste Vereinbarung über die Anwerbung ausländischer
Arbeitskräfte abgeschlossen. In den 1960er Jahren setzte ein Zustrom von
Arbeitskräften aus verschiedenen Ländern ein. Der Anteil der ausländischen
Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung betrug 1960 1,2%; bis 1997 war er auf
9% gestiegen (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 1999, S.
19; zit. nach Wilczopolski 2000, S. 7). Seit 1989 gab es nach dem Zusammenbruch
des Ostblocks auch Einwanderungsbewegungen aus Osteuropa nach Deutschland.
In der Folge der demographischen
Veränderungen wandte sich ein Teil der pädagogischen Diskussion nach 1975
den Kindern der „Gastarbeiter“ zu, die inzwischen die Schulen besuchten.
Nachdem sich viele Arbeitsmigranten – entgegen den ursprünglichen Erwartungen
der „Gastgeber“ – dazu entschlossen hatten, nicht in ihre Herkunftsländer
zurückzukehren, sondern in Deutschland zu bleiben, wurden sie nun nicht mehr
in der Rolle von „Gästen“ als vielmehr von „Einwanderern“ gesehen.
Die „Ausländerpädagogik“
der 1970er Jahre war eine Antwort auf die multikulturelle Gesellschaft.
Sie reagierte zunächst vor allem auf die sprachlichen Defizite der ausländischen
Kinder, die nun die Schulen besuchten. Ziel war es, ihnen die erforderlichen
Deutschkenntnisse zu vermitteln, um ihnen die Integration zu erleichtern.
Gleichzeitig jedoch sollten bei ihnen muttersprachliche Kenntnisse gefördert
werden, um die Rückkehr in die Herkunftsländer zu ebnen.
In den 1980er Jahren rückte
in der Pädagogik zunehmend der interkulturelle Aspekt in den Mittelpunkt.
Dem lag die Einsicht zugrunde, dass die ethnischen und kulturellen Minoritäten
nicht in einem Schwebezustand zwischen zwei Welten verharrten, sondern dauerhafter
Bestandteil unserer Gesellschaft waren. Der Begriff „interkulturell“ betont
die Reziprozität der Beziehung zwischen der Majoritätskultur und den Minoritätskulturen.
Interkulturelle Erziehung richtet sich gleichermaßen an deutsche und ausländische
Kinder. Es ist kein in sich abgeschlossenes Fach oder Projekt, sondern ein
fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip.
Zentral in den Diskussionen
seit den 1990er Jahren sind die Begriffe „das Eigene und das Fremde“. Ziel
ist nicht die Abschaffung der Differenz zwischen den Kulturen, sondern die
Überwindung des hierarchischen Denkens gegenüber dem Fremden. Das heißt auch,
dass „fremde“ Kultur nicht als ein abgetrennter Bereich in speziellen Kapiteln
abgehandelt, sondern als ein Bestandteil des Eigenen verstanden wird.
Auch Musikpädagogen wandten
sich dem interkulturellen Lernen zu. Irmgard Merkt, Expertin auf dem Gebiet
des interkulturellen deutsch-türkischen Musikunterrichts, forderte, „interkulturell“
zum Unterrichtsprinzip zu machen, d.h. fremde Musik nicht während eines begrenzten
Zeitraumes durchzunehmen, sondern sie ständig präsent werden zu lassen.
Sie konstatierte: „Türkische Musik war bislang überwiegend Gegenstand der
Ethnomusikologie, war ‚außereuropäische‘ Musik. Diese ‚fremde‘ Musik ist
aber seit Jahren ein Teil der musikalischen Realität der Bundesrepublik“
(zit. nach Sollinger 1994, S. 37) – ein großer Teil, denn die Mehrzahl der
ausländischen Kinder in deutschen Schulen war türkischer Herkunft. Merkt
kam es weniger darauf an, die Kenntnis der traditionellen, „authentischen“
türkischen Musikkultur zu fördern, als vielmehr die Aufmerksamkeit auf die
kulturellen Neubildungen in den aktuellen Kontexten zu lenken.
Denn beim interkulturellen
Musikunterricht geht es „nicht um die Vermittlung der Musik fremder Kulturen,
sondern um eine Verständigung zwischen den Kulturen, die die Reflexion des
jeweils Eigenen mit einbezieht“ (Schäfer 1992, S. 91). Es wurde offensichtlich,
dass die Perspektive nicht nur gegenüber dem Fremden, sondern auch dem Eigenen
einer Veränderung bedurfte, denn auch die eigene Kultur wurde meist nicht
in ihrer Komplexität, sondern reduziert auf einige ausgewählte Lieder und
Kompositionen dargestellt. So blieb sie in großen Teilen Terra incognita.
Nicht nur die Wahrnehmung der fremden, sondern auch der eigenen Kultur war
geprägt von evolutionistischen Auffassungen: Ihr schien eine naturgegebene
hierarchische Ordnung zugrunde zu liegen. In den Musikschulbüchern war der
Blick lange Zeit fixiert auf Volkslieder und einige
wenige herausragende kulturelle Leistungen der „großen Meister“, wobei erstere
als der „Humus“ galten, aus dem letztere hervorgingen.
Der kulturevolutionistische
Ansatz zeigte sich auch darin, dass die Musik anderer Völker nur in Form
der Volksmusik bzw. Folklore vorkam. In vielen Unterrichtsmaterialien „wird
der Eindruck erweckt, als seien lediglich die Europäer zur Höchstleistung
einer klassischen Musik befähigt gewesen, während andere Völker auf der
phylogenetisch früheren Stufe der Volksmusik stehengeblieben sind“ (Schäfer
1992, S. 63).
Zu Beginn der 21. Jahrhunderts lässt sich die Beschäftigung
mit unterschiedlichen Musikkulturen beobachten: zum einen mit denjenigen
der in Deutschland lebenden MigrantInnen und deren Nachkommen, zum anderen
mit solchen, die vor allem durch die modernen Medien vermittelt werden. Dem
liegt die Erkenntnis zugrunde, dass viele Kulturen untereinander vernetzt
sind (Kruse 2003, S. 7). Der Aspekt der Transkulturalität ist ins Zentrum
gerückt: „Die Kulturen sind hochgradig miteinander verflochten und durchdringen
einander. [...] Transkulturalität dringt [...] nicht nur auf der Makroebene
der Kulturen, sondern ebenso auf der Mikroebene der Individuen vor. Für
die meisten unter uns sind, was unsere kulturelle Formation angeht, mehrfache
kulturelle Anschlüsse entscheidend. Wir sind kulturelle Mischlinge“ (Wolfgang
Welsch, zit. nach Kruse 2003, S. 9). Die modernen Gesellschaften sind nach
Welschs Auffassung in sich komplex und multikulturell. Die Konzepte
der „Multikulturalität“ und der „Interkulturalität“ kritisiert er, weil ihnen
ein traditionelles Kulturverständnis von in sich geschlossenen, ethnisch
fundierten und sozial homogenisierenden Systemen zugrunde liege. Das Konzept
der Transkulturalität setzt dem entgegen, dass die heutigen Kulturen nicht
getrennt voneinander zu betrachten seien, weil sie sich gegenseitig beeinflussen
und durchdringen.
Analysen von Musikschulbüchern (Sollinger, Schäfer)
Es geht Sollinger in ihrer
Untersuchung darum, in Unterrichtswerken – speziell in Musikbüchern – versteckten
Eurozentrismus und Rassismus aufzuzeigen. Es handelt sich dabei weniger um
offen rassistische Äußerungen als um die Aufdeckung von Mechanismen, die
oft verborgen bleiben, weil sie internalisiert sind. Sollinger untersuchte
48 Musikbücher der Sekundarstufe I aus dem Zeitraum zwischen 1970 und 1992
nach folgenden Gesichtspunkten:
-
Geht das Buch auf außereuropäische
Musik ein? Welche Themen- und Länderauswahl wurde getroffen?
-
Wird außereuropäische
Musik latent abgewertet, z.B. indem die eigenen, oftmals aus der westeuropäischen
„Kunstmusik“ abgeleiteten Wertmaßstäbe an fremde Kultur gelegt werden?
-
Werden allgemeine rassistische
oder eurozentristische Inhalte transportiert? Gibt es offenen Rassismus
und Eurozentrismus?
Bei ihrer quantitativen
Analyse gelangt Sollinger zu folgenden Ergebnissen:
Fünf der untersuchten
Musikbücher lassen außereuropäische Menschen, Musik und Instrumente ständig
präsent sein. Im gesamten Buch findet man Fotos und Informationen über fremde
Kulturen eingestreut. Besonders lobend erwähnt sie das Schulbuch „Sequenzen“
5/6 (1976), hg. von Frisius, Fuchs u.a. „Sequenzen“, so Sollinger, mache
es sich zum Prinzip, stets auf außereuropäische, vor allem afrikanische Musik
zu verweisen, wenngleich dabei meist von „Naturvölkern“ die Rede sei. Offensichtlich
werde auf die Präsenz fremder Kulturen besonderer Wert gelegt (Sollinger
1994, S. 47). Im Sinn interkultureller Pädagogik im Einwanderungsland Deutschland
sei das Buch „Hauptsache Musik“ 5/6 (1992), hg. von Pütz und Schmitt, vorbildlich.
Es lege seinen Schwerpunkt auf die Präsenz der Einwandererkinder und -kulturen,
insbesondere der türkischen (Sollinger 1994, S. 48).
Bei den Unterrichtseinheiten
zu außereuropäischer Musik dominieren in den Schulbüchern die Themen Jazz,
Blues, Spirituals, Reggae, Soul, d.h. Musik der Afroamerikaner – wobei Jazz
eigentlich längst in unsere Kultur Eingang gefunden hat und kaum mehr als
„fremde“ Musikkultur gelten kann. In relativ vielen Büchern gibt es Tänze
und Lieder, insbesondere in Büchern für die 10–12Jährigen. Allerdings ist
die Auswahl sehr begrenzt: Unter den Liedern tauchen einige wenige immer
wieder auf, z.B. „Shalom Chaverim“ und „Hava nagila“ aus Israel und „La Cucaracha“
aus Mexiko. Relativ verbreitet sind inzwischen türkische Lieder.
Auffällig ist das vollständige
Ignorieren Afrikas in den Liedern. Die Musik der Schwarzen wird zudem aus
einer verengten Perspektive wahrgenommen. In den Schulmusikbüchern wird sie
zumeist nur im Zusammenhang mit dem (afroamerikanischen) Jazz erwähnt. Dabei
transportieren zahlreiche Darstellungen rassistische Vorurteile: u.a. die
Auffassung, Schwarze hätten vor allem eine rhythmische Begabung, die als
angeboren und nicht als Produkt der Sozialisation betrachtet wird (Schäfer
1992, S. 37).
Es gibt auch mehrere Beiträge
zum Thema „Musik fremder Kulturen“, die aber meist nur sehr kurz sind. Selten
sind ausführliche Beiträge zur außereuropäischen Musik. Vor allem die Kapitel
in den Lehrwerken „Musik hören, machen, verstehen“, hg. von Lugert, und „Spielpläne“,
hg. von Kemmelmeyer, Nykrin u.a., enthalten – so Sollinger – „mustergültige“
Unterrichtseinheiten im Sinn interkultureller Pädagogik.
Bei der qualitativen Analyse
der Schulbücher gelangte Sollinger zu folgenden Resultaten:
Es kann beobachtet werden,
dass bei bildlichen Darstellungen „das Urteil oft von nichtmusikalischen
Kriterien und Gewohnheiten beeinflußt ist“ (Sollinger 1994, S. 64). Das heißt
z.B., dass die Körperhaltung, Gestik, Mimik und sogar auch die Kleidung fremder
Musiker das Urteil über ihre Musik, die weder erklungen ist noch überhaupt
bekannt ist, prägt. Eine konzentrierte, disziplinierte, ernste Haltung z.B.
suggeriere dem europäischen Rezipienten, es handele sich um „ernste“ Musik.
Nacktheit oder partielle Nacktheit z.B. afrikanischer Musiker stimme nicht
überein mit unseren internalisierten Wahrnehmungsmustern: Sie wird gleichgesetzt
mit einem Mangel an Zivilisation und dementsprechend mit einer „primitiven“
Musikkultur.
Bei der Analyse bildlicher
Darstellungen in Musikbüchern hat Sollinger eine weitere Beobachtung gemacht:
In manchen Schulbüchern dominieren in Kapiteln zum Jazz Fotos mit weißen
Musikern. Damit werde, so Sollinger, Jazz zu „weißer Musik“ gemacht. Es müsse
jedoch auch durch die Auswahl der Fotos erkennbar sein, dass Jazz ursprünglich
„schwarze Musik“ sei, die dann allerdings auch von Weißen adaptiert worden
sei. „Wenn weiße Menschen im Fotomaterial quantitativ überlegen und qualitativ
attraktiver präsentiert sind, wird schwarze Kunstmusik ... als weiße vereinnahmt“
(Sollinger 1994, S. 66).
Viele Fotos, so stellt
Sollinger fest, verstärken gängige rassische Klischees, so z.B., wenn der
Weiße durch die Auswahl der Bilder auf den Typus des Intellektuellen, der
Schwarze hingegen auf den eines emotionalen, ekstatischen Menschen festgelegt
wird. Die Realitätswahrnehmung wird dadurch auf geläufige Stereotypen reduziert.
Ein weiteres Mittel der
Realitätsverengung ist es, die Wirklichkeit auf einige wenige Aspekte zu
reduzieren. So wird die schwarze Kultur in Musikbüchern gern in Zusammenhang
gebracht mit der Sklaverei. „Daß schwarze Menschen ausschließlich in ihrer
Sklavenvergangenheit vorgestellt werden, reduziert sie auf einen Teil ihrer
Geschichte. Das heutige Pendant ist die Reduktion schwarzer Menschen auf
einen Teil ihres gesellschaftlichen Seins, nämlich als in Armut und Unterdrückung
Lebende, als Opfer ihrer Lebensumstände. So heißt es z.B. in dem Buch ‚Ein
Weg zur Musik‘, Bd. 2, 1982, S. 261: ‚Alle Leiden und Hoffnungen ihrer unterdrückten
Rasse haben sie eh und je ausgesungen“ (zit. nach Sollinger 1994, S. 68).
Darstellungen, die (im positiven Falle) Mitleid und Schuldgefühle erregen,
seien einer „egalitären Einstellung“ hinderlich. „Sie verfestigen das asymmetrische
Bild vom hilfsbedürftigen Schwarzen und dem zur Hilfeleistung fähigen Europäer.“
Außerdem sei bekannt, dass Mitleid, Schuldgefühle und Aggression nahe beieinander
liegen und dass Empfindungen wie Mitleid und Schuldbewusstsein schnell in
ihr negatives Gegenteil umschlagen können (Sollinger 1994, S. 69).
Internalisierte Vorurteile
äußern sich auch im Sprachgebrauch, der unbewusst abwertend sein kann. So
gibt es in den Musikbüchern manchmal ungenaue geographische Zuweisungen,
z.B.: „Spiel auf einer Trommel in Ostafrika“. Eine solche Zuweisung negiert
die kulturelle Vielfalt eines Kontinents, unterschlägt die Tatsache, dass
in den verschiedenen Ländern und Regionen Afrikas u.a. sehr unterschiedliche
Musikinstrumente verwendet werden und dass auch afrikanische Kulturen sehr
differenziert sind. (Eine Entsprechung zum „Trommler in Ostafrika“ wäre beispielsweise
ein „Klavierspieler in Westeuropa“!) In einigen Büchern taucht außerdem noch
die Bezeichnung „Neger“ auf, die im allgemeinen als diskriminierend aufgefasst
wird.
Bei als diskriminierend
empfundenen Begriffen wie „Neger“ oder „Zigeuner“ müsse jedoch – so Olaf
Schäfer – unterschieden werden, ob Materialien in den 1950er und 60er Jahren
oder aber später veröffentlicht worden seien. Erst seit den 70er Jahren sei
den Autoren die Problematik solcher Begriffe bewusst gewesen (Schäfer 1992,
S. 32).
Klischees werden in den
Musikbüchern auch über „Zigeuner“ transportiert. Sie erscheinen häufig romantisiert,
indem sie als besonders lebensfroh und frei besungen werden, während sie
in der Realität oft diskriminiert und verfolgt wurden bzw. werden. Hier begegnet
ein „Rassismus mit umgekehrten Vorzeichen“, der Unterschiede nicht negativ,
sondern positiv bewertet (Schäfer 1992, S. 44).
Jazz ist in den Musikbüchern
die einzige weit verbreitete Unterrichtseinheit zu „außereuropäischer“ Musik.
In Kapiteln über Jazz schleichen sich ebenfalls viele Vorurteile ein, z.B.
die Überbetonung des Emotionalen und Rhythmischen in der Musik der Schwarzen.
„Das ‚negrische Musikgefühl‘ unterstellt, daß das Interesse am Rhythmus zum
‚Wesen‘, zur ‚Natur‘ des Negers gehöre. Abgesehen von der intellektuellen
Verlogenheit kryptonormativer Begriffe wird der ‚naturgegebene‘ Hang zum
Rhythmus an der Rasse festgemacht... und ist damit selbst rassistisch“ (Sollinger
1994, S. 81).
Es gibt einige Lieder
in den Schulbüchern, „die unverhohlene eurozentristische oder rassistische
Botschaften übermitteln“. Als „ein besonders ärgerliches Beispiel“ nennt
Sollinger den Kanon c-a-f-f-e-e, der von Musiklehrern geschätzt wird, weil
er beim Erlernen der Noten hilfreich ist. Musikbücher bringen ihn häufig unter
dem Thema „Quodlibet“: „c-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Kaffee, Nicht für
Kinder ist der Türkentrank...“ Sollinger hält den Text für diskriminierend,
ebenso wie den „Blankensteinhusar“: „Tokayer, du bist mild und gut, du bist
das reinste Türkenblut fürn Blankensteinhusar“.
Ein weiteres türkenfeindliches
Lied ist „Prinz Eugen“, dessen Text laut Liedkommentar die „Abwendung der
Türkengefahr für Europa“ („Unser Liederbuch“, Mittelstufenband, 1968, S.
33) thematisiert. Ein Lied, dessen Inhalt sich nicht nur gegen Muslime, sondern
auch gegen Juden richtet, ist das mittelhochdeutsche „Kreuzzuglied“ von
Walther von der Vogelweide (siehe „Unser Liederbuch“, Oberstufenband, 1962,
S. 30). Es wirkt um so diskriminierender, wenn ihm keinerlei historische
Erläuterung beigefügt ist.
Das Türkenbild, das einige
Schulmusikbücher bewusst oder unbewusst tradieren, ist nicht nur antiquiert,
sondern auch unverantwortlich angesichts der Tatsache, dass die größte Gruppe
der Immigranten in Deutschland türkischer Nationalität ist. Diskriminierend
ist aber auch, dass türkische Musik in einigen Schulmaterialien völlig unerwähnt
bleibt – ein Rassismus durch Auslassung. Ebenso werden viele historische
Einflüsse unterschlagen, so z.B. die Herkunft mancher „europäischer“ Musikinstrumente
aus dem Orient. „Prinzipiell ist zu fordern, daß sich Unterrichtsmaterialien
in der Auswahl nicht an eigenen nationalen Kulturleistungen orientieren sollten,
sondern an dem Aspekt, daß sich Kulturleistungen immer aus Eigenem und Fremdem
zusammensetzen. Letzteres wird jedoch zumeist übersehen, so daß die Unterrichtsmaterialien
überwiegend eurozentristisch geprägt sind“ (Schäfer 1992, S. 56). Ethnozentristische
Darstellungen leugnen die bei jeder Kulturentwicklung vorhandenen fremden
Einflüsse und rücken die eigenen Leistungen ganz in den Mittelpunkt.
Für den falschen Weg hält
es Schäfer, rassistische Inhalte der Bücher zu zensieren und zu verschweigen:
Rassismus könne nur bekämpft werden, indem man ihn thematisiere. In bezug
auf problematische Lieder bedeute das, dass man sie nicht tabuisiere, sondern
sich mit ihren Inhalten kritisch auseinandersetze (Schäfer 1992, S. 90).
Im Anschluss an ihre Untersuchung
stellt Sollinger die Frage, welche Schlussfolgerungen aus der Analyse für
eine mögliche bessere Praxis zu ziehen seien. Sie macht dazu folgende Vorschläge
für ein interkulturelles Liedersingen:
-
Thematisieren der Situation,
in der sich Einwanderer befinden
-
zweisprachige, bi-kulturelle
Lieder
-
Singen von Liedern aus
fremden Ländern in Originalsprache und einer singbaren Übersetzung
-
Lieder von Betroffenen
-
interkulturelle Lieder
Heimatland der New Age
Musik-Szene ist die USA. In den siebziger Jahren bildete sich aus den Alternativbewegungen
und einigen weiteren Geistesströmungen die Grundidee eines New Age, eines
Neuen Zeitalters, heraus. Das Sternzeichen des Wassermanns wurde zu dessen
Zeichen, es diente einigen als Symbol der kosmischen Zwangsläufigkeit, mit
der das Neue Zeitalter hereinbrechen würde.
Die New Age Bewegung ist
eine Reaktion auf die Krise der Moderne. „Die Grundmaxime der Moderne war,
dass die Menschheit summa summarum eine fortschrittliche Entwicklung durchmacht
– hin zu mehr Naturbeherrschung, zu mehr individueller Freiheit, zu mehr
Humanität, Demokratie, Sozialverhalten, zu mehr Selbstbestimmung, Wohlstand
und Friedfertigkeit“ (Stroh 1994, S. 27). Doch ist der Glaube daran erschüttert:
„Keines der großen Globalprobleme der Menschheit ist mit Mitteln, die der
wissenschaftlich-technische Fortschritt hervorgebracht hat, zu lösen (unabhängig
von der Frage, inwieweit die heutigen Globalprobleme sogar ein Produkt des
wissenschaftlich-technischen Fortschritts sind)“ (Stroh 1994, S. 27). Politik,
Kultur und Wissenschaft seien durch ihre „Teilzuständigkeiten“ in den postmodernen
Gesellschaften damit beschäftigt, einzelne Symptome zu behandeln, ohne Strukturen
zu verändern. „Dadurch wird ein Kreislauf der Handlungsunfähigkeit am Laufen
gehalten, der zu einem neuen Grundbedürfnis führt: dem Bedürfnis, diesen
Kreislauf der Handlungsunfähigkeit aufzubrechen“ (Stroh 1994, S. 27). „Die
New Age Bewegung ist [...] nicht nur ein Ausdruck der [..] neuen Grundbedürfnisse,
sondern auch Ausdruck eines großen Therapieversuchs, durch die Produktion
neuer Ideen und Handlungsperspektiven global Verdrängtes aufzuarbeiten.“
Sie versuche, „primär zu erreichen, dass Menschen stärker auf sich selbst
vertrauen und dabei Erfahrungen erproben, die in postmodernen Gesellschaften
von Politik, Kultur und Wissenschaft nicht bereitgestellt werden. Die New
Age Bewegung ist ein Sammelpunkt und Katalysator von und für Menschen, die
sich auf der Suche nach neuen Erfahrungen befinden“ (Stroh 1994, S. 27f.).
„Die Fortschrittsmaxime
in Wissenschaft und Politik wird vom Paradigmenwechsel gebrochen;
die ganzheitliche Betrachtung soll das traditionelle, analytische
Vorgehen wissenschaftlicher Methode aufheben; das neue Bewusstsein
soll den vorherrschenden Materialismus ablösen, und durch Bewusstseinserweiterung
sollen Arten der Wirklichkeitsaneignung akzeptiert werden, die sich von der
herkömmlich wissenschaftlichen unterscheiden; die gesellschaftliche Entfremdung
und Verdinglichung soll durch Selbstverwirklichung abgelöst, die alten
Religionen sollen durch eine offenere Spiritualität ersetzt und das
Patriarchat in eine androgyne Gesellschaft überführt werden; der ökonomisch-politische
Zentralismus soll in Netzwerke auf der Basis von Selbstorganisation
transformiert werden; und schließlich soll die zerstörerisch gewordene Mensch-Umwelt-Beziehung
im kosmischen Bewusstsein versöhnt werden“ (Stroh 1994, S. 28).
Ein zentraler Begriff
der New Age Bewegung ist „Bewusstseinserweiterung“. Er ist nicht zu
verwechseln mit „Bewusstseinsveränderung“, die relativ leicht – z.B. durch
Drogen – herbeigeführt werden kann, aber nur ein vorübergehender Zustand
ist. Bewusstseinserweiterung ist nicht zeitlich begrenzt; in ihr bleibt das
„normale“ Bewusstsein vollständig erhalten und üblicherweise ungenutzte Hirnareale
werden genutzt.
In diesem Zusammenhang
spielt Musik eine zentrale Rolle. „Jede Musik, dir zur Bewusstseinserweiterung
führt, stellt eine neue musikalische Erfahrung dar“ (Stroh 1994, S. 34).
Dazu gehören nach Strohs Auffassung nicht die Musik auf den Spielplänen der
deutschen Opernhäuser, das Repertoire von Gesangvereinen und Blaskapellen
oder die Produkte der Musikindustrie, weil hier das Immergleiche ständig
wiederholt werde. „Mit neuen musikalischen Erfahrungen suchen Menschen faktisch
nach Wegen der Bewusstseinserweiterung und nach einer Möglichkeit, auf jene
Krisenerscheinungen postmoderner Gesellschaften aktiv zu reagieren, die das
bewusste Sein einengen“ (Stroh 1994, S. 35). New Age Musiker sind nach Strohs
Auffassung nicht realitätsflüchtige, sondern politisch bewusste Menschen.
Ihre musikalischen Handlungen verfolgen nicht rein musikalische Ziele, sondern
sie sind durch außermusikalische Motive bestimmt.
Zur historischen Entwicklung der New Age Bewegung
In der BRD erschienen gegen Ende der siebziger Jahre zwei für die New Age Bewegung wichtige Publikationen:
·
Peter Michael Hamel: Durch
Musik zum Selbst, 1976. Das Buch ist Hamels kompositorisches Programm sowie
die theoretische Basis des „Freien Musikzentrums München“, das seit 1978
besteht und das Kurse, Workshops, Vorträge und Konzerte der New Age Musik
anbietet.
·
Dieter Duhm: Synthese
der Wissenschaft, 1979. Duhm war ein bekannter Theoretiker der Neuen Linken
der 1970er Jahre. Mit diesem Buch löste er sich von der marxistischen Linken,
nahm er Gedanken vorweg, die wenige Jahre später von Marilyn Ferguson formuliert
wurden.
Marilyn Ferguson veröffentlichte
1980 in den USA ein Buch mit dem Titel „The Aquarian Conspiracy“. Es gilt
als Beginn des New Age.1982 erschien es unter dem Titel „Die sanfte Verschwörung“
in deutscher Sprache. In diesem Buch wird u.a. herausgestellt, dass die New
Age- Bewegung ebenso wie die Alternativbewegungen trotz unterschiedlicher
äußerer Handlungsweisen die Transformation der Gesellschaft und des Bewusstseins
zum Ziel hat.
In der BRD erschien 1983
ein Buch, das den Charakter eines New Age Musik-Kultbuchs für sich beanspruchen
kann: „Nada Brahma“ von Joachim-Ernst Berendt, hervorgegangen
aus einer Rundfunkserie. Hierin wird „die Welt“ auf Schwingung und Klang zurückgeführt.
Das Buch stellt eine „umstrittene assoziative Synthese der ... New Age- Theorien
mit musikalischem Allgemeinwissen und ethnologischen Spezialkenntnissen“ dar
(Stroh 1994, S. 11).
In der Mitte der achtziger
Jahre begann die Phase der kommerziellen Ausbreitung der New Age Bewegung.
Nun mehrten sich auch die wissenschaftlichen Widerlegungen sowie die Zweifel
an dieser Bewegung. Anfang der 1990er Jahre setzte (so Strohs These) eine
neue Phase der New Age Bewegung ein. „Die Zeit der Widerlegungen und Glaubenskriege
ist zu Ende. Man richtet sich auf ein Miteinander ein. New Age-Gedanken diffundieren
– oft unter leicht veränderter Bezeichnung – ins auf Musik bezogene Alltagsbewusstsein“
(Stroh 1994, S. 12). Die Grundgedanken der New Age Bewegung wurden fast schon
Allgemeingut. Es gab jedoch auch kommerzielle Auswüchse, so dass sich inzwischen
viele Musiker von dem Etikett „New Age“ distanzieren.
Stroh konstatiert ein
großes Interesse der New Age Bewegung an außereuropäischer, ethnischer Musik.
In diesem Zusammenhang begegnet der Terminus „Weltmusik“, der seit Anfang
der 1990er Jahre eine transkulturelle Musik bezeichnet, „bei der es möglichst
keinerlei ästhetische und kulturelle Schranken oder Vorurteile geben soll“
(Stroh 1994, S. 388, „Weltmusik“).
Stroh unterscheidet sieben
Weltmusik-Konzeptionen, die er in zwei Kategorien einordnet:
1.
„deskriptive Weltmusik-Konzeptionen“,
die vorhandene „musikkulturelle Phänomene [...] beschreiben und [...] erklären“
(Stroh 1949, S. 312)
2.
Weltmusik-Konzeptionen,
„die weniger beschreiben als vielmehr Zukunftsprogramme formulieren“ (Stroh
1994, S. 312).
Die erste Kategorie beinhaltet
drei Konzeptionen (Stroh 1994, S. 312f.):
1a) Die erste stellt fest,
dass sich im 20. Jahrhundert abendländische Musik über die ganze Welt ausgebreitet
hat, d.h. in zahlreichen außereuropäischen Ländern wurde eine Musikkultur
nach europäischem Vorbild errichtet.
1b) Die zweite Konzeption geht davon aus, dass „durch die Akkulturation von afrikanischer und mitteleuropäischer Musik auf dem Boden Amerikas“ der Jazz entstand und „zumindest seit 1961 eine sehr starke Tendenz ausgeprägt hat, spirituelle Traditionen der ganzen Welt zu integrieren“.
1c) Die dritte Konzeption
stellt fest, „dass die Massenmedien heute die Rock- und Popmusik zur internationalen
Musik schlechthin gemacht haben.“
Die zweite Kategorie besteht
aus vier Konzeptionen (Stroh 1994, S. 313ff.):
2a) Der ersten liegt die
Vorstellung zugrunde, „die Musik der Welt ließe sich als großes Gemeinschaftsunternehmen
im Rahmen der UNESCO dokumentieren und friedlich, pluralistisch und jedem
Menschen zugänglich ordnen.“
2b) Die zweite Konzeption
sieht Weltmusik als das Ergebnis eines Prozesses, in dem sich MusikerInnen
aller Kulturen durch Erfahrungen mit anderen Kulturen bereichern (Konvergenztheorie).
2c) „Weltmusik als eine
aktiv von Musikerinnen und Musikern betriebene Zusammenführung, die nichts
nivelliert, sondern sogar Musik, die vom Untergang bedroht ist, musikalisch-kompositorisch
‚aufhebt‘ Zugleich kommen bei einer derartigen Auseinandersetzung von Europäerinnen
und Europäern mit ethnischen Kulturen ‚Bewusstseinsschichten hoch, die einfach
geschlafen haben‘“. – Mit dieser Konzeption von komponierter Weltmusik, die
z.B. Karlheinz Stockhausen in seiner Komposition „Telemusik“ (1966) umgesetzt
habe, seien zentrale Ideen von New Age Musik berührt. Stockhausen verstand
seine Komposition als eine Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen.
„Dass Menschen, die in den Spiegel einer anderen Kultur blicken [...] ihr
‚tieferes Selbst entdecken‘ können, ist ein New Age-Gedanke, der psychologisch
über die Lehre von musikalischen Archetypen, philosophisch/anthropologisch
durch Jean Gebsers Theorie verschiedener Bewusstseinsstufen begründet worden
ist.“
2d) „Weltmusik als eine Art integraler Musik, die verlorengegangene (magische, mythische) Bewusstseinsschichten bzw. Bewusstseinsstufen zusammenführt.“
Die New Age Bewegung ist eng mit der Weltmusik verwoben. Das zeigen auch Großveranstaltungen in der BRD. Eine der spektakulärsten Weltmusik-Großveranstaltungen in der BRD ist „KlangWelten – Das Festival meditativer Musik“, das seit 1987 stattfindet. Der künstlerische Leiter und Programmgestalter Rüdiger Oppermann tritt mit einem ethnisch gemischten Ensemble in verschiedenen Städten auf, wobei jährlich ca. 25.000 Menschen das Festival besuchten. Zum Programm gehören u.a.: Obertongesang, Tibetische Klangschalen, Harfenmusik, Türkische Schamanen- und Derwischmusik, klassische indische Musik, Jazz-Folk, Japanische ZEN-Musik, Westafrikanische Musik, Didgeridoo-Musik der Aborigines Australiens, eine Cello-Solo-Sonate von Bach, eine Komposition von Arvo Pärt, Musik aus China, Minimal Music von Reich, Indio-Flötenmusik, Jazzimprovisation auf arabischer Skala, kanadisch-arktisches Throat-Singing u.a. Bezeichnend für dieses Repertoire ist u.a., daß zwischen Kunst- und Volksmusik nicht unterschieden wird. Außer „reiner“ ethnischer Musik gibt es die verschiedensten Fusionsformen. Hervorgehoben wird das Prinzip der „Toleranz“: „Transzendente Erfahrungen werden in allen Kulturen zu allen Zeiten gemacht und musikalisch ausgedrückt. Die hier vorgestellten Musiker gehören den verschiedensten Religionen an ... Alle stehen mit Toleranz nebeneinander“ (zit. nach Stroh 1994, S. 318). „KlangWelten ist – wie der Plural es andeutet – ein offenes Konzept, nicht religiös, politisch, kulturell, stilistisch festgelegt. Die Vielfalt als Prinzip“ (Oppermann im Begleitheft der CDs).
Alle die verschiedenen Erscheinungen werden unter der Bezeichnung „meditative Musik“ zusammengefasst: in ihr soll Transzendenz enthalten sein. Meditative Musik ist nicht an einen bestimmten Stil, an keine der Musik immanente Eigenschaft gebunden, sondern ihr entspricht eine bestimmte Haltung des Hörers, eine bestimmte Art, mit Musik umzugehen.
Doch Offenheit und Toleranz
sind nicht grenzenlos. Z.B. soll es eine deutliche Abgrenzung gegenüber „kommerzieller“
und „kurzlebig-modischer“ Musik geben. Weltmusik im Sinne der weltweit verbreiteten
Rock-Popmusik scheidet aus, „aber auch der aufdringlich klassischen Musik
wird mit Skepsis begegnet“ (Stroh 1994, S. 319).
„KlangWelten verkörpert
eine ganze Reihe typischer Merkmale von New Age Musik: Es soll neue Erfahrungen
vermitteln, die auf eine Tiefenschicht des Menschen verweisen, die transkulturell,
d.h. allgemein menschlich ist. Im Hören auf Fremdes können die Mitteleuropäer
im toleranten, offenen Dialog solche neuen Erfahrungen machen. Diese Musik
ist funktional und überschreitet zugleich alle Grenzen ihrer ursprünglichen
Funktion. Die Funktion, die sie als transkulturelle Weltmusik hat, geht über
ihre ursprüngliche religiöse, kultische, politische, soziale, ästhetische
usw. Funktion hinaus. Als New Age Musik hat sie eine neue Funktion: die Erfahrung
von Transzendenz“ (Stroh 1994, S. 319).
Für die Theorie und Praxis
der New Age Musik spielt die Frage eine große Rolle, ob es musikalische Universalien
gibt, d.h. Faktoren, die kulturunabhängig, allgemein menschlich sind. Einigen
gilt die Erfahrung von Transzendenz als eine solche universelle musikalische
Erfahrung. Eine weitere Universalie ist der Rhythmus. Reinhard Flatischler
ist der Meinung, Rhythmus sei ein Archetypus, der einem „kollektiven Unbewussten“
entstamme und in dem sich stets sich wiederholende Erfahrungen der Menschheit
niederschlagen. dass Rhythmus tiefe Schichten des Bewusstseins erreichen
könne und dadurch ein Weg zur Bewusstseinserweiterung sei. Die Mitteleuropäer
hätten die Kraft des Rhythmus „vergessen“ oder kulturell verdrängt. Eine
Möglichkeit des Sich-Erinnerns sieht Flatischler im Hören und Aufnehmen ethnischer
Musik außereuropäischer Provenienz. Rhythmische Archetypen, die alle Völker
– trotz aller Verschiedenheiten der musikalischen Kulturen – auf gleiche
Weise und unabhängig voneinander „unterhalb“ ihrer Musik realisieren, gelten
als Spiegelbilder von Schwingungsgesetzen und Naturrhythmen, in denen und
mit denen alle Menschen leben.
Die Lehre von den Archetypen
geht auf den Psychoanalytiker Carl Gustav Jung zurück, nach dem z.B. die
Mythen und Märchen der Weltliteratur bestimmte immer und überall wieder behandelte
Motive enthalten, Motive, die auch in Phantasien, Träumen, Delirien und Wahnideen
begegnen. Daran anknüpfend richtet die New Age Bewegung ihre besondere Aufmerksamkeit
auf Mythen, Märchen, religiöse Symbole und auch musikalischen Universalien,
weil sie glaubt, dass in ihnen „Menschheitswissen“ aufbewahrt ist.
Neben dem Rhythmus hat
Flatischler auch den Klang als musikalischen Archetypus bezeichnet. Dabei
wird u.a. an östliche Religionen angeknüpft, die einen unauflösbaren Zusammenhang
zwischen der allumfassenden Lebensenergie und einem Urklang oder Urlaut sehen.
Siehe dazu auch Joachim-Ernst Berendt „Nada Brahma. Die Welt ist Klang“.
Der Klang gilt – wie der Rhythmus – als Widerspiegelung des Weltganzen und
des Kosmos.
Eine Variante transkultureller
Musik ist die „Musik“, die Naturlaute unverstellt wiedergibt. Auf dem New
Age-Musikmarkt erscheinen inzwischen Tonträger, die einfache Naturlaute fast
ohne kompositorische Bearbeitung dokumentieren. In den USA werden seit Anfang
der neunziger Jahre z.B. in den Kiosken der Nationalparks Produkte „made
from nature“ verkauft, darunter CD-Naturklänge pur. Hier sei – so Stroh –
allerdings zu fragen, ob die Tatsache, dass Nationalparks und solche Produkte
als transkulturelle unberührte Natur angeboten werden und verkauft werden,
nicht kulturell bedingt sei. „Zudem ist jede CD mit Naturlauten nicht nur
von Menschen bearbeitet, sondern auch aus der Unendlichkeit von Natur mittels
einer ganz bestimmten Ästhetik ausgewählt“ (Stroh 1994, S. 329).
Es gibt auch die Verbindung
aller möglichen akustischen Erscheinungen. Auf der CD „Welthören“ (1990)
von Hansjörg Schmitthenner wird z.B. eine subtropische Nacht in Sumpfwäldern
gefolgt vom Raketenstart in Cape Canaveral, einer mexikanischen Hochzeit,
peruanischen Schamanen, pazifischen Walgesängen usw.
Musikalische Reisen
Zwischen der Suche nach
neuen Erfahrungen und der Tätigkeit des Reisens besteht ein enger Zusammenhang.
Dabei lassen sich drei Arten von Reisen unterscheiden:
- „innere Reisen“: Phantasiereisen,
psychedelische Trips, geistiges Entschweben
- „äußere Reisen“: Begegnungen
mit fremden Ländern und Menschen und Kulturen. Solche Reisen gehören zum
festen Bestand der Biographie von New Age-Musikern.
- „Reisen außerhalb des
Körpers“: intensive Außer-Körper-Erfahrungen. Sie wurden von Robert A. Monroe
seit den siebziger Jahren untersucht. Monroe gilt als der Urheber der Braintechnologie:
eines technischen Verfahrens, durch das die Gehirnaktivität beeinflusst wird;
Musik spielt dabei eine wichtige Rolle. Solche Erfahrungen sollen bewusst
machen, dass „wir die Grenzen unseres Bewußtseins viel weiter stecken können,
als wir dies normalerweise tun“ (Stroh 1994, S. 332).
Es herrscht dabei die
Überzeugung von einer engen Verquickung äußerer und innerer Reisen. Daher
lautet eine der Thesen der New Age Musik, „daß die Begegnung mit fremden
Musikkulturen einer Selbsterfahrung der Begegnenden gleichkommt, genauer
noch: daß die neuen Erfahrungen fremder Kulturen die Erfahrung von tiefen,
verdrängten Bewußtseinsschichten ... sein können (Stroh 1994, S. 332).
Definition
„Obertongesang
ist eine Gesangstechnik, die aus dem Klangspektrum der Stimme einzelne Obertöne
so herausfiltert, dass sie als getrennte Töne wahrgenommen werden und der
Höreindruck einer Mehrstimmigkeit entsteht. Man spricht dann von Obertongesang,
wenn den Obertönen eine eigenständige musikalische Funktion zukommt, zu unterscheiden
von Gesangstechniken, die lediglich die Klangfarbe der Stimme mit Obertönen
anreichern“ („Obertongesang“, in: Wikipedia).
Stroh nennt vier
Charakteristika des Obertongesangs:
·
Eine einzelne Person
kann zweistimmig singen,
·
Der mehrstimmige
Gesang enthält zwei ganz unterschiedliche Klangfarben, eine raue Unter- und
eine flötenhafte Oberstimme,
·
Die Tonhöhe der
Oberstimme kann den natürlichen Stimmumfang der singenden Person weit überschreiten,
·
Es ist deutlich
zu vernehmen, dass die Oberstimme mittels einer bestimmten Technik der Unterstimme
‚entnommen‘ ist (Stroh 1994, S. 193).
Obertongesang ist
eine scheinbare Zweistimmigkeit, denn die Oberstimme wird nicht zusätzlich
gesungen, sondern sie entsteht aus der Unterstimme.
Es gibt auch Untertongesang, bei dem durch
besonderen Einsatz des Kehlkopfs Töne hervorgebracht werden, die unterhalb
des Singtons liegen. „Im Gegensatz zum Obertongesang sind diese Töne nicht
Obertöne, also ganzzahlige Vielfache des Grundtons, sondern ganzzahlige
Teiler des Grundtons, so genannte Subharmonische“ („Untertongesang“, in:
Wikipedia). Untertongesang gibt es bei den Kehlsängern aus Tuva, in den rituellen
Gesängen der tibetischen Lamas und den Xhosa in Südafrika.
Westlicher Obertongesang
Der Obertongesang
wurde in der westlichen Kultur vor allem in der New Age-Szene der 1980er
Jahre bekannt. In den 1960ern hatten ihn Komponisten wie La Monte Young und
Karlheinz Stockhausen in die Avantgardemusik eingeführt. Während einige Künstler
aus diesen Ansätzen eine neue Kunstform entwickelten, ließen sich andere
auch von asiatischen Kehlgesangtechniken inspirieren.
Obertongesang wird
auch in der Musiktherapie angewendet.
Zu den Repräsentanten
des westlichen Obertongesangs gehören u.a.: Christian Bollmann, David Hykes,
Karlheinz Stockhausen, Michael Vetter.
Michael Vetter,
manchmal als der „Vater der deutschen Obertonszene“ bezeichnet (Stroh 1994,
S. 192), erlernte den Obertongesang in einem Zen-Kloster. Nachdem er eine
Zeitlang in Japan gelebt hatte, kehrte er 1983 in die Bundesrepublik zurück.
Mitte der 1970er Jahre begann er, Obertongesang zu unterrichten. Er bietet
zahlreiche Seminare für Obertongesang an. Bekannte Obertonsänger wie Christian
Bollmann, Reinhart Schimmelpfeng und Karl Adamek haben bei ihm gelernt. Vetter
hat zahlreiche CDs und Bücher veröffentlicht. „Vetter hat die bundesdeutsche
Musikszene mit einem Phänomen praktisch bekannt gemacht, das bislang nur
von ethnologischem Interesse war: der Fähigkeit tibetanischer Mönche, durch
geeignete Formung des Rachenraumes aus einem tiefen Bordunton Obertöne so
prägnant herauszufiltern […], dass die Abfolge der Obertöne wie eine zusätzliche
Oberstimme wahrgenommen werden kann. Je ‚rauher‘ der tiefe Bordunton klingt,
um so mehr Obertöne enthält sein Spektrum. Die tibetischen Grundtöne klingen
daher oft schnarrend, während die darüberliegenden Obertonmelodien flötend
wirken, da sie – definitionsgemäß – sinusförmig sind“ (Stroh 1994, S. 193).
Christian Bollmann,
ein Schüler Vetters, hat an der Musikhochschule Köln studiert. Sein Schwerpunkt
lag zunächst auf Jazz. Seit 1972 beschäftigte er sich mit Obertongesang,
Meditation, Zen und Tai Chi. 1985 gründete er den Obertonchor Düsseldorf.
Obertongesang und
obertonreiche Klänge werden in der esoterischen Tradition oftmals gedeutet
als Abbild kosmischer Ordnung: „So erhebt sich plötzlich über dem Grundton
eine klare, helle Melodie, Abbild der kosmisch-algebraischen Analogien, zusammengesetzt
aus den dazugehörenden Obertönen. […] Wir hören das Abbild kosmischer Gesetze...“
(Beiheft zur CD „KlangWelten Festival“). – „Jede Obertonleiter steigt auf
in die Unendlichkeit und verbindet uns mit ihr. Deshalb ist Obertonmusik,
wo immer in der Welt sie gemacht wird, auch eine spirituelle Erfahrung“ (Joachim-Ernst
Berendt, Beiheft zur CD „Klangräume“). Lies dazu Strohs Ausführungen zur
„harmonikalen Dimension der New Age Musik“ (S. 171ff.)
Zur instrumentalen
Begleitung des Obertongesangs sind bestimmte Instrumente besonders geeignet:
z.B. das Didgeridoo, die Tambura, die Koto-Harfe u.a. Diese Instrumente enthalten
besonders viele unperiodische Klanganteile, d.h. sie erzeugen starke Geräusche,
sind reich an Obertönen.
Kehlgesang
In Tuva (auch Tuwa),
der Mongolei und anderen zentralasiatischen Ländern erscheint Obertongesang
in verschiedenen Formen des Kehlgesangs. Stroh nennt auch die westmongolischen
Hoomis, pygmäische Jodler und einige bulgarische Gesänge (Stroh 1994, S.
193). Weitere Bezeichnungen dafür sind u.a.: Kehlkopfgesang, Khöömei (weitere
Bezeichnungen s. „Obertongesang“, in: Wikipedia).
Tuva, ein Teil Sibiriens,
liegt an der nordwestlichen Grenze der Mongolei bzw. der südlichen Grenze
Russlands. Die Bewohner von Tuva (auch Tuvans genannt) – insgesamt ca. 300 000
– gehören zu den größten Minoritäten in Sibirien. Inzwischen hat Tuva den
Status einer autonomen Republik innerhalb der Russischen Föderation. Die
Mehrzahl der Bevölkerung gehört dem Tibetischen Buddhismus an; zahlreich
sind auch Anhänger des Schamanismus. Zu den kulturellen Besonderheiten zählt
der Kehlgesang, der inzwischen auch in westlichen Konzerthallen dargeboten
wird.
Der Kehlgesang unterscheidet
sich von dem westlichen Obertongesang u.a. durch die Art, den Grundton zu
erzeugen. Es werden u.a. Teile des Kehlkopfs verengt, wodurch Obertöne gegenüber
dem Grundton verstärkt werden.
„Eine spezielle
Kunst der Kehlsänger sowohl in Zentralasien als auch bei den Kehlsängerinnen
der Xhosa ist der Gebrauch von Untertongesangstechniken […]. In der Regel
wird der erste Unterton der Grundstimme, die erste Subharmonische, als Grundton
verwendet. Dadurch wird das Obertonspektrum des Sängers bzw. der Sängerin
stark erweitert“ („Obertongesang“, in: Wikipedia). Diese Gesangstechnik
findet sich u.a. bei tibetischen buddhistischen Mönchen.
Der Gesang der tibetischen
Mönche, der vor allem im indischen Exil gepflegt wird, hat folgende Charakteristika:
Es werden sehr tiefe Töne gesungen, die reich an Obertönen sind. Durch eine
besondere Gesangstechnik hört es sich an, als produziere jeder Sänger nicht
einzelne Töne, sondern Akkorde.
Zu der Gesangstechnik
schreibt J.-E. Berendt (Mozart Requiem, Tibetian Monks, Gregorian Requiem.
Rituals of Transformation): „Dabei müssen Rachen, Kehle und Kehlkopfchakra in jahrelanger Schulung immer weiter geöffnet werden
– und zwar so, dass die Öffnung beherrscht und mit ihr ‚gespielt‘ werden
kann. Erst dann wird der Klang so tief wie möglich in den Körper geschickt
– über den Lungen- und Sonnengeflechtsbereich hinunter bis in Becken und
Bauch, den hara des Zen. Die Mönche weisen auch darauf hin,
dass die Schulung – mindestens fünf Jahre – mit täglicher Meditation und
innerer Arbeit verbunden werden muß. ‚Du musst zum Gefäß werden. Sonst findet
der Klang keinen Raum in dir und geht wieder fort‘. Viele meinen, es seien
nicht sie, die sängen, die Töne flössen durch sie. Sie seien nur das dienende
Instrument.“
Es gibt Musikwissenschaftler,
die darauf hinweisen, dass auch im gregorianischen Gesang Ober- und Untertöne
eine große Bedeutung gehabt hätten. Dies sei aber vergessen worden, weil
es nicht notiert werden konnte.
[1] Curt Sachs: Die Musik der Alten Welt. Berlin 1968.
S. 138.
[2] Aus dem Beiheft zu: KlangWelten Festival. Musik
aus 5 Kontinenten. Doppel-CD mit Textbeilage. Network Medien-Cooperative. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1990.
[3] Dario Domingues;
zit. nach dem Beiheft zur CD „KlangWelten Festival“.
[4] Tzu-Kuang Chen kritisiert Kleinens Vergleich einer
europäischen mit einer chinesischen Oper folgendermaßen: „Angesichts der
sprachlichen Hindernisse und des Informationsdefizites [sic] kann ein solch
oberflächlicher Vergleich nicht zur kulturellen Verständigung beitragen,
sondern im Gegenteil die vorhandenen Missverständnisse und Vorurteile noch
verstärken“ (Tzu-Kuang Chen 2006, S. 91).