Friederike Tornau

Kein Zuhause – Kaum zu Hause. Bindung und Hilfe bei Kindern und Jugendlichen in Straßensituationen: Eine empirische Feldforschung in Ecuador.

Diplom Psychologie – Klinische Psychologie, heilpädagogische Psychiatrie


Kontakt: friederike.tornau@gmx.de



Einleitung
Bis heute hat die Bindungsforschung zahlreiche Einflussfaktoren und Auswirkungen von Bindungserfahrungen betrachtet und wurde im Zuge dessen bereits vereinzelt auf Straßenjugendliche aus Industriestaaten angewendet. Betrachtet man die umfangreichen Beschreibungen von Bedingungsfaktoren und Belastungen von Straßenkindheit in Lateinamerika, so erscheint es plausibel, dass bindungsrelevantes Wissen auch zum Verständnis dieser Thematik beitragen könnte. Jedoch beachtete die Bindungsforschung diesen Bereich bislang kaum. Daher stellt die vorliegende Arbeit einen Versuch dar, sich dem Straßenkinderphänomen in Lateinamerika – hier am Beispiel von Ecuador – mithilfe eines bindungstheoretischen Ansatzes zu nähern. Die explorative Feldforschung fokussierte auf das bindungsrelevante Verhalten der Kinder und Jugendlichen gegenüber den Helfern in Straßenkinderprojekten und auf die Etablierung der Hilfebeziehung.  

Fragestellungen
1. Welche Verhaltensweisen zeigen die betroffenen Kinder und Jugendlichen in Hilfesituationen?
2. Wie gestaltet sich die Hilfebeziehung zwischen Kindern und Helfern in Straßenkinderorganisationen?

Untersuchungsdesign
Zur Klärung der Fragestellungen wurde ein dreimonatiger Feldfoschungsaufenthalt unternommen. In unterschiedlichen Organisationen (d.h. Schule, Heim & Kontaktzentren), welche Kinder und Jugendliche in Straßensituationen unterschiedlicher Risikograde betreuen, wurden Verhaltensbeobachtungen von 59 Kindern und Jugendlichen vorgenommen. Zudem wurden Daten über die Familienhintergründe erhoben. Weiterhin wurden insgesamt 14 qualitative Interviews mit dem Personal durchgeführt, welche die Motivation und Arbeitszufriedenheit des jeweiligen Helfers sowie das Verständnis des bindungsbezogenen Verhaltens je eines Kindes thematisierten. Die Beobachtungs- und Interviewdaten wurden mittels zusammenfassender Inhaltsanalyse (Mayring, 2002) reduziert. Die Verhaltensweisen wurden mit Hilfe eines fünfstufigen Modells (Boris & Zeanah, 1999) Bindungsniveaus zugeordnet. Über die Daten aus den Gesprächen mit den Helfern wurde eine typologische Analyse realisiert (Mayring, 2002).  

Ergebnisse
Bindungsverhalten in Situationen von Hilfe / Unterstützung
Die Mehrheit der jüngeren Kinder zeigte sich in Hilfesituationen mit den Helfern betont hilflos, forderte Unterstützung häufig und ausdauernd ein und maximierte so den Kontakt zu den Erwachsenen. Dahingegen vermieden ältere Kinder und Jugendliche, welche vollständig auf der Straße oder in einem Heim lebten eher Hilfeleistungen. 

Hilfebeziehung
Die typologische Analyse der Interviewdaten der Helfer ergab fünf differenzierbare Typen von Helfern. Diese unterschieden sich deutlich bezüglich ihrer Zufriedenheit mit der Arbeitssituation und der Intensität des Kontaktes mit den betreuten Kindern und Jugendlichen. Es deuteten sich unterschiedliche mentale Strategien an, mit der Belastung der Arbeit umzugehen. Zudem zeigte sich, dass ein Großteil der Helfer die Hilfebeziehung zu den Kindern eher vermied, bzw. kontaktmaximierende-kontrollierende Verhaltensweisen zeigte. 

Fazit
Kinder und Jugendliche in Straßensituationen sind in Bezug auf ihre Erfahrungen in der Herkunftsfamilie sowie ihre Bindungsorganisation als Risikogruppe anzusehen. Diese Belastungen und Beeinträchtigungen zeigen sich in bedeutsamer Weise in der alltäglichen Arbeit in Hilfsorganisationen und konfrontieren die Helfer täglich mit bindungsrelevanten Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen insbesondere in Form von hilfevermeidenden oder maximierend-kontrollierenden Verhalten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung legen nahe, dass bindungskorrigierende Erfahrungen von dem Großteil der Helfer derzeit kaum geleistet werden können, da diese unterschiedliche Strategien nutzen, um die Hilfesituation für sie selbst kontrollierbar zu gestalten. Die Verhaltensweisen, die aus diesen Vermeidungsstrategien resultieren, dürften jedoch zu einer Bestätigung der bestehenden Bindungsrepräsentationen der Kinder und Jugendlichen beitragen.