Stacheldraht, mit Tod geladen (Dachau-Lied)

 Stacheldraht

Das Konzentrationslager Dachau wurde im März 1933 in der Nähe von München errichtet. Seine Organisation wurde zum Vorbild für das gesamte Lagersystem der SS. Im KZ Dachau entwickelte sich - wie auch in den anderen nationalsozialistischen Lagern - ein kulturelles Leben. Es gab dort u. a. eine Bibliothek, die teils nationalsozialistische „Pflichtlektüre", jedoch auch illegale Werke enthielt, die vor dem Einstampfen bewahrt werden konnten. In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern fanden musikalische Veranstaltungen mit den verschiedenartigsten Ausprägungen und Funktionen statt. Einerseits entstand ein offizielles Musikleben: Musik diente der Unterhaltung (vorwiegend der SS), sie begleitete das Aus- und Einrücken der Arbeitskommandos und „untermalte“ sogar Strafaktionen und Hinrichtungen. Wo das materielle Überleben gelang, entwickelten die Häftlinge außerdem jedoch Aktivitäten, die sich den Plänen der Machthaber, sie auch geistig und seelisch zu vernichten, widersetzten. So gab es u. a. zahlreiche illegale musikalische Veranstaltungen. Es wird berichtet, dass auch Herbert Zipper, der Komponist des Dachau-Liedes, zusammen mit anderen Musikern Holz und Metall gesammelt habe, um Instrumente für ein Orchester herzustellen, das heimlich Konzerte veranstaltete. Das Dachau-Lied gehörte anscheinend ausschließlich zum verbotenen Musikrepertoire der Konzentrationslager. Es entstand 1938. Seinen Text verfasste Jura Soyfer, seine Melodie Herbert Zipper. Soyfer war damals ein bekannter österreichischer Schriftsteller und Dichter russischer Herkunft, dessen Familie während der Revolution nach Wien emigriert war. Unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland wurde Soyfer aus politischen und rassischen Gründen (er war Kommunist und Jude) im KZ Dachau inhaftiert. Er starb 1939 im KZ Buchenwald. Herbert Zipper wurde 1904 in Wien geboren. Zu seinen Lehrern gehörten u. a. Joseph Marx, Maurice Ravel und Richard Strauss. Zipper war als Dirigent und Komponist tätig, seit 1932 in Düsseldorf. Nach Hitlers „Machtergreifung" kehrte er nach Wien zurück. Im April 1938 wurde er ins KZ Dachau deportiert und 1939 in das KZ Buchenwald bei Weimar überstellt. Zipper wurde 1939 aus dem KZ entlassen. Er emigrierte nach Manila (Philippinen) und übersiedelte 1946 in die USA. Im April 1997 starb er in Santa Monica, Kalifornien (DER SPIEGEL 18/1997, S. 238).

Der Refrain des Dachau-Liedes zitiert die zynische Losung "Arbeit macht frei", die über dem Lagertor stand. Sie verhöhnte die Häftlinge, die tagtäglich erfuhren, dass Arbeit an einem solchen Ort nicht einmal auf Gewinn und Nutzen für die Machthaber, nicht einmal auf die Ausbeutung von Sklaven zielte, sondern allein die Erniedrigung und Vernichtung von Menschen bezweckte. Die Beschäftigung Zippers und Soyfers in Dachau bestand darin schwere, mit Zement und Steinen beladene Karren zu ziehen - eine Tätigkeit, für die üblicherweise Pferde oder Maschinen verwendet werden. Der beißende, barbarische Spott der Losung "Arbeit macht frei", so wird berichtet, hatte beide Autoren dazu veranlasst, ein Widerstandslied für ihre Mitgefangenen zu verfassen. Im Refrain des Liedes erscheint die zynische Losung verwandelt in einen Appell an die Gefangenen, vor der Situation extremer Bedrohung und Unfreiheit nicht zu resignieren, sondern ihr inneren Widerstand entgegenzusetzen. Paul Cummins teilt in seiner Biographie über Herbert Zipper mit, dass beide Autoren des Dachau-Liedes ein Überleben nur durch die Konzentration auf die äußere Welt und durch strenge Selbstdisziplin und Gefühlskontrolle für möglich gehalten hätten. In den ersten drei Liedstrophen werden die Härte und Gnadenlosigkeit des Lagerlebens illusionslos dargestellt. Die Schlussstrophe allerdings knüpft mit ihrem optimistischen Aufschwung an ältere Traditionen der Arbeiter- und Revolutionslieder an: Sie verheißt, dass auf die Zeit der Not und des Elends eine Zukunft in Freiheit folgt. Es ist anzunehmen, dass solchen zuversichtlichen Wendungen trotz ihres stereotypen Charakters inmitten der KZ-Hölle eine lebensrettende Bedeutung zukommen konnte.

Das Dachau-Lied verbreitete sich trotz des Singverbotes schnell unter den Gefangenen und wurde auch in anderen Lagern bald bekannt. Zipper selbst scheint das Lied nicht mehr in Dachau gehört zu haben, weil er nach Buchenwald überstellt wurde. Aus Vorsichtsgründen hatten Textdichter und Komponist keine schriftliche Fassung angefertigt, sondern Text und Melodie einigen Musikern in Dachau mündlich mitgeteilt. Das Lied gelangte auch bald ins Ausland. Schon während des Dritten Reiches wurde es in England von einem deutschen Emigrantenchor gesungen und 1944 in einem Liederbuch abgedruckt. Durch seine mit chromatischen Wendungen durchsetzte Melodik und seine spannungsreiche Harmonik wirkt das Dachau-Lied weniger populär und eingängig als andere Lagerlieder, z. B. das Moorsoldatenlied. Dennoch gibt es gemeinsame Stilmerkmale, wie z. B. die strophische Form, den Marschrhythmus und den Wechsel von Moll in den Strophen zu Dur im Refrain. 1940 entstand im französischen Internierungslager Damigny eine zweite Komposition des Dachau-Liedes von Marcel Rubin, dem die Verse von einem Mithäftling aus der Erinnerung mitgeteilt worden waren (Lammel, S. 99). Rubin war Komponist in Wien. 1938 emigrierte er nach Frankreich, wo er zu Beginn des Krieges interniert wurde. 1942 ging er nach Mexiko; dort wurde seine Fassung des Dachau-Liedes noch im selben Jahr veröffentlicht (Lammel, S. 160). 1947 kehrte Rubin nach Wien zurück (Lammel, S. 157).

Literaturangaben:

Cummins, Paul. 1992. Dachau Song. New York, Berlin u.a: Peter Lang.

Lammel, Inge / Hofmeyer, Günter (Hg.). 1962. Lieder aus den faschistischen Konzentrationslagern.  (Das Lied - im Kampf geboren, Heft 7). Leipzig:  Friedrich Hofmeister Verlag.

© Gisela Probst-Effah