Wir stehn im Kampfe und im Streit (Sankt Georg-Lied)
Es ist bisher viel zu wenig ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, dass es auch über die Münchener Widerstandsgruppe „Weiße Rose" hinaus einen breiten, oft sehr mutigen und hartnäckigen Jugendwiderstand gegen die NS-Diktatur gegeben hat. Diese jugendlichen Oppositionellen rekrutierten sich einerseits aus den zuletzt über vier Millionen Mitgliedern der vor Hitlers Machtergreifung - und damit vor dem fast gleichzeitigen Verbot aller nicht kirchlich gebundenen Jugendorganisationen - sehr aktiven sogenannten „Bündischen Jugend" wie auch aus den fast einhunderttausend im Dezember 1933 zwangsweise in die HJ eingegliederten Angehörigen des „Evangelischen Jugendwerks". Zum anderen widersetzten sich dem Regime ebenfalls sehr hartnäckig und oftmals auf recht effektive Weise zahlreiche Mitglieder der - wegen der Konkordatverhandlungen zwischen der Katholischen Kirche und der NS-Regierung - 1933 noch nicht aufgelösten, sondern - trotz Konkordat - endgültig erst 1939 verbotenen katholischen Jugendorganisationen. Dazu gehörte u. a. neben den St. Georgs-Pfadfindern und dem Bund Neudeutschland - als stärkster, zentral und regional besonders gut organisierter Hauptgegner des Regimes der Katholische Jungmännerverband Deutschlands mit seiner „Jungschar" und seiner „Sturmschar". Von der Düsseldorfer Zentrale unter Leitung des kämpferischen Generalpräses Ludwig Wolker wie auch von regionalen Schaltstellen in allen Diözesen aus gesteuert verfügte er fast bis zum Kriegsbeginn über eine trotz wiederholter Verbote und Behinderungen sehr lebendige, kritische Jugendpresse mit hohen Auflagen. Bis zu seinem endgültigen Verbot im Jahr 1939 (und durch angeblich vom Regime noch in gewissem Maße tolerierte Beschränkung auf „rein religiöse Jugendarbeit" auch darüber hinaus) war er so vielfältig und geschickt aktiv, dass es ihm gelang mehrere 100.000 Mitglieder an sich zu binden trotz einer mit massivem Druck arbeitenden NS-Werbung für den Beitritt der Jugendlichen in die HJ. Dabei musste er sich gegen eine wachsende Einschränkung des Freiraums für religiös fundierte Jugendarbeit durchsetzen. Der Kirchenkampf des Regimes wurde immer heftiger und gefährlicher mit Bespitzelungen und Verhören, Verhaftungen und Willkürurteilen gegen Geistliche und Ordensleute, kirchliche Mitarbeiter und Verbandsrepräsentanten, Jugendführer und Gruppenmitglieder. Es kam zu unzähligen gezielten Provokationen, Behinderungen, Überfällen und Bedrohungen vor allem durch HJ und SA. Besonders prekär wurde die Lage für die jugendlichen Mitglieder, als das Regime zum 1. Dezember 1936 für alle Jugendlichen die Zwangsmitgliedschaft in der HJ verfügte.
Für unseren Zusammenhang erscheint bedeutsam, dass im Jugendwiderstand sowohl der Bündischen Jugend wie der kirchlichen Jugendorganisationen Lied und Singen eine besonders wichtige Funktion gewannen. Insbesondere galt dies für die seit Beginn des NS-Regimes in dichter Folge entstandenen Lieder nach Texten von Georg Thurmair, einem aus Bayern stammenden Führungsmitglied im Jugendhaus Düsseldorf, der zum Teil auch unter dem Pseudonym „Thomas Klausner" oder „Schikki" die Texte der wichtigsten Kampflieder der Katholischen Jugend schrieb. Seine Lieder wurden überwiegend von Adolf Lohmann, damals noch junger Düsseldorfer Lehrer und bereits langjähriger Singleiter der Katholischen Jugend, vertont. In einem Nachruf auf Adolf Lohmann summierte ein Zeitzeuge: „Die Bedeutung der Lieder Adolf Lohmanns für die Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die Katholische Jugend und bald auch die Gemeinden sangen gegen den Ungeist der Zeit an" (Seufert, S. 177).
Rein statistisch lässt sich der hohe Stellenwert des Singens auch daran ermessen, dass noch 1937 nicht weniger als 740.000 Liederbücher des katholischen Jugendführungsverlags Düsseldorf verkauft wurden (ROTH, S. 198). Noch überzeugender belegen dies die oft demonstrativ hohen Teilnehmerzahlen katholischer jugendlicher an bestimmten liederfüllten Gottesdiensten und kirchlichen Veranstaltungen in der NS-Zeit, wie z. B. die trotz massiver Behinderung durch das Regime niemals völlig unterbundenen Jugendwallfahrten. Im rheinischen Raum führten diese - sogar durch die Sperrriegel des HJ-Streifendienstes hindurch - zum Altenberger Dom im Bergischen Land, zu dem die Jugendlichen an solchen Festtagen immer wieder vordrangen und wo es dann wegen des verbotenen Singens solcher Lieder prompt zu Verhaftungen und zur Beschlagnahme der Noten, Texte und Instrumente kam. Im ersten Jahr des Regimes waren solche Feiern noch verbunden mit den tradierten, von intensivem Singen und meist auch entsprechenden Instrumenten getragenen öffentlichen Banneraufmärschen der Jugendlichen in ihrer „Bundestracht"; seit dem Verbot von öffentlichen Aufmärschen, Uniformen, Fahnen und Abzeichen im Juli 1934 blieben dann solche Feierpraktiken und Umzüge auf den Kirchenraum begrenzt.
Das „Sankt Georg-Lied" ist eines der wichtigsten von den zahlreichen neuen Liedern, die bei solchen Gelegenheiten gesungen wurden - mit eben jenem kämpferisch-emotionalen Engagement, das aus der um 1934 entstandenen Schallplattenaufnahme - einem der ganz wenigen originalen Tondokumente mit Widerstandsliedern aus der NS-Zeit - dem Hörer auch heute noch deutlich entgegenklingt. Nicht von ungefähr fühlte sich die Partei durch diese „Kampflieder der katholischen Jugend" (so der NS-Kreisleiter von Münster im Juni 1936) provoziert und wertete das Singen dieser „kirchlichen Kampflieder" bei Jugendgottesdiensten als „kirchliche Demonstration" (so im August 1936 der Polizeidezernent von Münster). Daher nimmt es nicht wunder, dass in den zahlreichen durch Gestapo- und Justizakten des „Dritten Reiches" breit dokumentierten politischen Prozessen gegen Jugendliche auch Anklagen wegen des Singens solcher Lieder eine erhebliche - gegebenenfalls verhängnisvolle - Rolle spielten.
Die kämpferische Wirkung der Lieder war jedoch nicht nur von den Text- und Melodieautoren durchaus intendiert, sondern auch von der Führung des Katholischen Jungmännerverbandes, der diese Lieder 1934 in seinem neuen Jugendliederbuch „Das graue Singeschiff“ veröffentlichte. Die etwas ungewöhnliche Zusatzbenennung verdankte das Buch seinem zu dem gelben Leineneinband des noch ganz unpolitischen Vorgänger-„Singeschiffs" von 1930 deutlich kontrastierenden grauen Leinenumschlag, der ganz bewusst gewählt war, wie Prälat Wolker in seinem Vorwort verdeutlichte: „Dieses zweite Singeschiff, das 'graue Singeschiff,' trägt ein feldgraues Gewand, ein Soldatengewand. Sinnbildhaft und der Stunde gemäß. Neue kämpferische Zeit ist angebrochen ...(Das Singeschiff S. 3). Gegen wen dieser Kampf gerichtet war, äußert besonders unmissverständlich das ursprünglich in der Rubrik „Gottesreich" des „grauen Singeschiffs" abgedruckte, erst in dessen Erscheinungsjahr 1934 entstandene „Sankt Georg-Lied". Es ruft beziehungsreich den heiligen Georg, den machtvollen „Drachentöter" - und das heißt ja: den Besieger Satans - und Ritterheiligen der Kreuzzüge, um seine Hilfe an im Kampf mit dieser bösen Weltenzeit und gegen die herrschende Gewalt des Bösen, um dann in einer besonders hintersinnig konnotativen 3. Strophe mit den Versen Die Lüge ist gar frech und schreit! und hat ein Maul so höllenweit! die Wahrheit zu verschlingen ... sogar gefährlich konkret zu werden; und zwar so konkret, dass diese Strophe von den Jugendlichen bald nur noch „Goebbels-Strophe" genannt wurde. Und dabei blieb es nicht einmal: Gemäß dem Bericht eines Zeitzeugen aus seiner Jugendgruppe über das Singen dieses Liedes „stand plötzlich einer in der Runde auf und ging mit erhobener Hand und nachziehendem Fuß, Dr. Goebbels imitierend, durch die Runde. Dass der letzte Vers in schallendem Gelächter unterging und später zu unserem 'Schlager' wurde, brauche ich wohl nicht besonders zu erwähnen" (Material S77).
Vielleicht werden die überdeutlichen Worte dieser Strophe auch durch einen „Flüsterwitz" aus dem „Dritten Reich" kommentiert: Den Witz, der „Reichspropagandaminister" Goebbels sei Ehrenbürger von Schwetzingen [!] geworden, weil er der einzige Deutsche sei, der Spargel quer essen könne (Gamm, S.87). Nicht von ungefähr nannte der regimekritische Volksmund Goebbels' Reichspropagandaministerium - bzw. auch ihn selbst - „Reichslügenmaul". Und bald sangen Jugendliche der katholischen „Sturmschar" in Geldern jene dritte Strophe sogar in einer bezeichnenden, nun einschränkungslos annotativen, also offen benennenden Parodiefassung (Meyers, S. 118):
Jupp Goebbels ist so klein und schreit
Und hat ein Maul so höllenweit
Die Wahrheit zu verschlingen
Eine wichtige Zusatzinformation verbirgt sich hinter dem kleingedruckten Vermerk am Ende des Sankt Georg-Liedes im grauen Singeschiff: „Ein besonderer Satz ist beim Verlag erhältlich". Dieser Vermerk weist daraufhin, dass diese Lieder eben nicht nur im „grauen Singeschiff' veröffentlicht wurden, sondern darüber hinaus - in einer Liedblattserie - auch als mehrstimmigeTonsätze, z. T. mit Instrumenten - in genau der klanglichen Gestalt also, wie sie in beigefügtem Klangbeleg zu hören ist. Darüber hinaus erschienen die Lieder als Lied-Schmuckblätter in kalligrafischer Gestaltung. Und schließlich wurden sie eben auch noch in jener von der Firma Telefunken zwischen 1934 und 1938 hergestellten, zuletzt 40 Schallplatten umfassenden Serie „Stimmen der Jugend", von denen allein 1937 46.000 Stück verkauft wurden (Roth, S. 198), veröffentlicht - zusammen mit „unpolitischen" neuen und alten Liedern, um vor allem diese Kampflieder auch akustisch verbreiten zu können. Diese Einspielungen standen - wie hier - meist unter Lohmanns Leitung, eingesungen und eingespielt von dessen - betont verharmlosend als „Sing-und Spielgemeinde Düsseldorf" benanntem - Jugendensemble, das diese Lieder darüber hinaus an Wochenenden und in den Ferien in ganz Deutschland im Rahmen von zahlreichen, als „Liedandachten" oder „Liedkatechesen" getarnten kirchlichen Singstunden verbreitete. Durch all dies entfaltete der Katholische Jungmännerverband also mit seinen Kampfliedern einen taktisch hervorragend geplanten „Medienfeldzug" fast schon von heutigen Dimensionen.
Dem Regime wurde immer klarer, dass dieser „Feldzug" ihm galt. Und so kam, was kommen musste: Im Februar 1936 erfasste mit 58 Festnahmen eine Verhaftungswelle die Spitzen des Jungmännerverbandes einschließlich seines Generalpräses Prälat Wolker, die einen Prozess vor dem seit April 1934 für „Hoch- und Landesverrat" zuständigen Volksgerichtshof in Berlin zur Folge hatte. Mehrere der Verhafteten wurden zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt, weil dem Regime erst jetzt bekannt geworden war (bzw. erst jetzt diese Information als Verhaftungsvorwand nützlich war), dass drei Jahre zuvor - 1933 - eine junge Kommunistin bei einem Leitertreffen des Jungmännerverbandes in einem Düsseldorfer Kloster über den Kommunismus referiert hatte. Nach Prozessende konnte der Jungmännerverband seine „rein kirchliche" Jugendarbeit sogar wieder eine Zeit lang fortsetzen. Im Januar 1938 jedoch wurde die Zentrale des Jungmännerverbandes - das Jugendhaus Düsseldorf - und ebenso das religiöse Zentrum des Verbandes, Haus Altenberg, geschlossen; die Gebäude, Einrichtungen, alle Konten und nicht zuletzt alle Restbestände des „grauen Singeschiffs" wurden beschlagnahmt. Zahlreichen Jugendlichen war das ein Anlass für die Fortsetzung ihrer kämpferischen Jugendaktivitäten in der Illegalität.
Literaturangaben
Gamm, Hans-Jochen. 1963. der Flüsterwitz im Dritten Reich. München: List-Verlag.
Material S77 (WR) zum NS-Projekt im Institut für Europäische Musikethnologie, Universität Köln.
Meyers, Fritz. 1975. Die Baronin im Schutzmantel. Emilie von Loe im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Kevelaer: Butzon & Bercker.
Roth, Heinrich. 1959. Katholische Jugend in der NS-Zeit – unter besonderer Berücksichtigung des Katholischen Jungmänner-Verbandes. Düssldorf: Verlag Haus Altenberg. (= Altenberger Dokumente, Heft 7).
Seufert, Josef. 1983. In memoriam Adolf Lohmann. In: Zeitschrift „Gottesdienst“ Jg. 17, Nr. 23. Freiburg, Wien: Herder-Verlag.
© Wilhelm Schepping