Forschungsschwerpunkt: Kulturen der Nachhaltigkeit, convivality und care
Unsere Forschungen reagieren auf die Herausforderung der planetaren Grenzen und damit verbundene Polykrisen und erforschen Transformationen auf allen Ebenen theoretisch und ethnographisch.
Wir widmen uns ökologischen, kulturellen und sozialen Aspekten von Bildung, Erziehung und Care in der frühen Kindheit im Kontext eines nachhaltigen Wandels. Im Zentrum der Forschungsaktivitäten stehen Untersuchungen von „Kulturen der Nachhaltigkeit in Kitas“, um neue Wege der Verknüpfung grundlegender theoretischer Fragestellungen, alternativer methodologisch-methodischer und transformativer Forschungsansätze mit Blick auf ethisch-ökologische Transformationsbewegungen zu entwickeln. Sie werden ethnographisch in Form von Geschichten erzählt, die als Analyseergebnisse unterschiedlichster Daten (Beobachtungen, videowalks, Gespräche, Dokumente, Artefakte, Diskurse) die verwobenen Sinnspuren ihrer Entstehung mit ihren jeweiligen strukturellen Komponenten und Erfahrungs- und Bildungsqualitäten fassen können. Phänomenologische (Pelluchon 2021), posthumanistische (Malone 2017), nachhaltigkeitstheoretische und strukturelle Analyseaspekte greifen dabei ineinander.
Unter diesen Gesichtspunkten behandeln wir Themen, die für eine kritische Weiterentwicklung erziehungswissenschaftlicher Nachhaltigkeitsforschung bedeutsam sind, wie etwa
- transformative Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten von Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Verbundenheit in Multispezies-Beziehungen
- institutionelle, konzeptionelle und didaktische Aspekte des Lernens und der Gestaltung (re-) generativer Praktiken und Orte, nachhaltiger care-Verhältnisse im Kontext von Professionalisierung, Institutionsentwicklung und bildungspolitischen Entwicklungen
- Erkundung von Ethiken des Miteinanderlebens, der Konvivialität in Multispezies-Welten, auch als ontologische Veränderung von einer anthropozentrischen zu einer posthumanistischen (Haraway 2015), an planetary wellbeing orientierten Weisen des Miteinanders
- Erforschung neuer dekolonialer Epistemologien zum Verständnis post-eurozentrischer Weltbeziehungen und Kindheitsbilder (Smith 2012).
Diese Forschungsthemen stehen für eine enge Verknüpfung von materiellen, körperlich-leiblichen, diskursiven und institutionenbezogenen Forschungsperspektiven zu Kulturen der Nachhaltigkeit, die im Überschneidungsbereich von Frühpädagogik, Pädagogischer Anthropologie, Kultur- und Sozialwissenschaften mögliche Ansätze für lebenswerte und friedvollere Zukünfte angesichts einer zunehmend vulnerablen Welt liefern können.
Schwerpunkte im Einzelnen:
- Ethics of conviviality, multispecies ethnography
- Care Forschungen
- Ethic, didactic, disaster resilience
- Transformationsbewegungen von Kitas zu „Kulturen der Nachhaltigkeit“
1. Ethics of conviviality, multispecies ethnography
Forschungen zur Frage der Konstitution gemeinsamer Bewohnbarkeit situierter und zugleich planetar orientierter Welten. Wie können Räume im Miteinanderleben, z.B. mit Eulen in der Kita geteilt (vgl. Stieve, Stenger et al. 2023) werden? Wie können sie in Geschichten erzählt werden und dabei ethische Aspekte berücksichtigen? Welche Visionen und Horizonte des gerechten ökologischen Zusammenlebens werden eröffnet?
Conviviality wird hier untersucht mit ihren vielfältigen Erfahrungsformen zwischen Kindern, Pädagog*innen, Schnecken, Pfefferminze und Wäldern in Kitas: Didaktische Fragen, ästhetische Praxen, Trauer und Freude, - wie können wir miteinander- und voneinander lernen?
Ursula Stenger & Oktay Bilgi: Making the complexity of realities tangible. Ethical-ecological aspects of collaborative constitutions of reality in the context of early childhood education and care. (In: Brinkmann, Malte et al. (eds.): Realities - Phenomenological and Pedagogical Perspectives. Springer: Wiesbaden.)
How can fundamentally different relationships to nature emerge in childhood, possible alternative realities for a thriving coexistence with different species? In order to develop new ways of living together in the ruins of the Anthropocene, it seems significant that we allow ourselves to become co-involved in cross-species processes of reality generation (Tsing 2015, p. 22). Using the example of an owl visit to a day care centre, aspects of the constitution of a shared space and co-existing reality, and the emergence of existential and pedagogical spaces between owls, children, professionals, and materialities will be shown.
Weitere Beiträge zu: ethics of conviviality, multispecies ethnography
Bilgi, Oktay (2022): Pädagogische Konzepte und ethische Fragen der Mensch-Tier-Beziehung im Anthropozän. In: Peter Cloos, Jens Kaiser-Kratzmann, Melanie Jester, Thilo Schmidt und Marc Schulz (Hrsg.): Kontinuität und Wandel in der Pädagogik der frühen Kindheit: Handlungsfelder, pädagogische Ansätze und Professionalisierung. Weinheim: Beltz Juventa, S. 115-129.
Bilgi, Oktay (2022) Eine pädagogische Exploration zu Ethiken der Mensch-Tier-Beziehung im Anthropozän. In: Thomas Senkbeil, Oktay Bilgi, Dieter Mersch und Christoph Wulf (Hrsg.): Der Mensch als Faktizität. Pädagogisch-anthropologische Zugänge. Bielefeld: transcript, S. 301-316.
Bilgi, Oktay (i.E): Kulturen der Lebendigkeit. Ethische und ökologische Transformationsbewegungen in Kitas. In: Heite, Catrin/Kessl, Fabian (Hrsg.): Ökologische und soziale Transformationen. Soziale Passagen. Journal für Empirie und Theorie Sozialer Arbeit.
Stenger, Ursula (2023): Begeisterung durch/für Natur. Phänomenologisch - posthumanistische Analysen/Perspektiven im Kontext Kita. In: Peskoller, H., Zirfas, J. (Hg.): Begeisterung. Beltz, Juventa. S. 81-93
Stenger, Ursula (2022): Der Duft von Pfefferminze. Phänomenologie als Zugang zu Naturbeziehungen in der frühen Kindheit. In: Journal Phänomenologie 57 (2022), hrsg. von Johanna Hopfner & Silvia Stoller. S. 22-32.
Stenger, Ursula (2021): Vom Aufbruch in den „Weine-Wald“. Abschied und Übergang als elementar menschliche Erfahrung im Kindergarten. Ein Beitrag zur Transitionsforschung und Naturpädagogik. In: Westphal, Kristin; Stenger, Ursula; Bilstein, Johannes (Hg.): Körper denken. Erfahrungen nachschreiben. Beltz, Juventa: Weinheim und Basel. S. 86-98.
2. Care Forschungen
Wir untersuchen, wie care als grundlegende Dimension pädagogischer Prozesse wahrgenommen, entwickelt und etabliert werden kann. Ein zentrales Anliegen ist, die Bedeutung von care als kontextspezifische Ethik professionellen Handelns zu erforschen und konzeptionell unter Berücksichtigung mehr als menschlicher Welten Bildung und Erziehung mit einem besonderen Fokus auf sinnlich-verkörperte, leibliche, ästhetische und spirituelle Aspekte weiterzuentwickeln. Wir betrachten Kinder nicht nur als Empfänger*innen von care, sondern sehen sie als in care-Netzen verwoben (vgl. Bellacasa 2017). Dabei entsteht die Frage: Wie kann durch Rituale und Praktiken Achtsamkeit und Verantwortung für fürsorgliche Beziehungen entwickelt werden? Wie können Gefühle der Zugehörigkeit und Verbundenheit gefördert und gestaltet werden? Auf welche Weise können care-Beziehungen dazu beitragen, sich als Teil vielfältiger multispecies-Welten wahrzunehmen und ethisch-ökologisch zu engagieren lernt?
Ursula Stenger (i.E.): Care Erfahrungen in der Kita im Anthropozän. Phänomenologische Erkundungen zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher, ökologischer und spiritueller Dimensionen von care. In: Cornelie Dietrich, Jeannette Windheuser, Niels Uhlendorf (Hg.): "Sorge - Erziehung - Bildung". Verlag Velbrück Wissenschaft.
Bilgi, Oktay/ Stenger, Ursula (2021). Betreuung: Phänomenologische Notizen zu Sorgebeziehungen und -praktiken in der Pädagogik der frühen Kindheit. In: Bilgi, Oktay; Sauerbrey, Ulf; Stenger, Ursula (Hg.): Betreuung – ein frühpädagogischer Grundbegriff? Beltz Juventa. S. 60-80.
Bilgi, Oktay/Stenger Ursula (2021): Die Sorge um den Anfang. Eine anthropologisch-phänomenologische Kritik präemptiver Strategien in der frühen Kindheit. In: Fuchs, Thorsten/Meseth, Wolfgang/Thompson, Christiane/Zirfas, Jörg (Hg.): Erziehungswirklichkeiten in Zeiten von Angst und Verunsicherung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. S. 117-134
Bilgi, Oktay/ Stenger, Ursula (2020): Betreuung: Pädagogisch-anthropologische Notizen zu kindheitspädagogischen Dimensionen der Sorge. In: Dietrich, Cornelie, Sanders, Olaf (Hg.): Anthropologie der Sorge. Weinheim, Basel: Juventa. S. 154-166.
3. Ethic, didactic, disaster resilience
Konferenz und Publikation:
Bilgi, O., Huf, C., Kluge, M., Stenger, U. (u.a.) (Hg.) (2024):
Zur Verwobenheit von Natur und Kultur. Theoriebildung und Forschungsperspektiven in der Pädagogik der frühen Kindheit. Beltz Juventa: Weinheim, Basel
Eine Trennung von Natur und Kultur war für das moderne Denken und damit auch die Frühpädagogik über lange Zeit konstitutiv. Die Verletzlichkeit von Mensch und Welt in der Klimakrise und im Zeitalter des Anthropozäns ist ein Motor, Alternativen einer relationalen Verhältnisbestimmung von Menschen in NaturKulturen für die Theoriebildung und Forschung in der Pädagogik der frühen Kindheit zu erkunden. Die versammelten Beiträge widmen sich Fragen zu anthropologischen Bildern von Kindern und ihrer Bildung, zu empirischen Konkretisierungsfeldern in pädagogisch gerahmten Situationen sowie politischen und ethischen Perspektiven für die Forschung und Praxis der Frühpädagogik.
Beiträge darin aus dem Forschungsteam:
Lanz, Helza, Stenger, Ursula, Baedorf, Fabian: Die Flutkatastrophe im Westen Deutschlands: ein Ereignis zwischen Kindern, Familien, Kitas, Wasser und Schlammfluten, Räumen, Tieren und Dingen.
“Firstly, human and planetary sustainability is one and the same thing“ (common world research collective 2020). Der Beitrag konkretisiert die Perspektive einer Verborgenheit von Menschen mit der Erde, mit der sie leben, in Bezug auf die Flutkatastrophe 2021 im Westen Deutschlands. Inspiriert von Posthumanistischen Theorieperspektiven einer gegenseitigen Angewiesenheit, Verletzbarkeit und Abhängigkeit erkunden die Autor*innen die Flutkatastrophe ethnographisch: ein Bach wird zum reißenden Fluss und verwebt sich mit dem Leben von Familien und zwei Kindertageseinrichtungen. Dabei wird die Flut als ein Ereignis zwischen Menschen, Tieren, Materialen, Umgebungen, Wasser und Schlamm gefasst, das von vielfältigen Grenzüberschreitungen bestimmt ist und zu Neukonfigurationen in der Kita führt. Methodisch erarbeitet und entfaltet sich der Beitrag als Bricolage (vgl. Odegard 2021), in dem postqualitativ „schimmernden“ Spuren gefolgt wird (Baise, Hamm 2020).
Ursula Stenger: Kollaborationen zwischen Kindern, Pädagog*innen, Igeln und Bäumen: Pädagogisch didaktische Formen des Lebens und Lerners in Kitas im Anthropozän
Der Beitrag diskutiert mit phänomenologisch und posthumanistisch informierten Herangehensweisen sechs mögliche didaktische Konstellationen/Formate, wie ökologisch-kulturelle Lebensformen im Kontext der Frühpädagogik kollaborativ zwischen Kindern und Fachkräften in der Begegnung mit der mehr-als-menschlichen Mitwelt entstehen können. Entlang von Ankerbeispielen aus Datenmaterial des BMBF-Verbundprojektes „RaumQualitäten“ werden diese unterschiedlichen Formen von zwischen Körpern, Tieren, Pflanzen und Orten konstituierten Naturbeziehungen erarbeitet. So rücken pädagogisch-didaktische Herangehensweisen, Haltungen und ethische Fragen zum Lernen in Kitas in den Fokus, die jeweilige Horizonte für mögliche Formen des (Zusammen-)Lebens im Anthropozän eröffnen (vgl. Dooren, Rose 2012).
Oktay Bilgi: Eine kritische Phänomenologie gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Ortsgeschichten der Kind-Huhn-Begegnungen in der Kita.
Oktay Bilgi geht davon aus, dass aussichtsreiche Bemühungen um nachhaltige Entwicklungen grundlegende Veränderungen unserer überwiegend anthropozentrisch gelagerten ökonomischen, kulturellen und sozialen Beziehungen zur Natur bedürfen. Dazu werden gesellschaftliche Naturverhältnisse kritisch phänomenologisch betrachtet, um Formen sozial-ökologisch verträglichen, wertschätzend-sorgenden Zusammenlebens von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen zu thematisieren. Eine Phänomenologie des Geschichtenerzählers führt er anhand von Ortsgeschichten von Kind-Huhn-Begegnungen in einer Kita aus und fragt, wie Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Welt erlebt und schätzen gelernt werden kann im artenübergreifenden Sterben nach Leben und Entfaltung, das gleichzeitig dazu beiträgt, eine gemeinsame Welt zu bewahren.
4. Transformationsbewegungen von Kitas zu „Kulturen der Nachhaltigkeit“
Theoretische und ethnographische Erkundungen von Transformationsbewegungen in Kitas, Praxis- und Teamentwicklung als Antwort auf planetare Grenzen. Entwicklung neuer Reflexionsperspektiven für Qualitätsdiskurse, indem die Diversität von Qualität in lokalen und situativen Kulturen im Anschluss an das BMBF Verbundprojekt RaumQualitäten, auch in Antwort auf ökologische Herausforderungen aufgezeigt wird.
Ursula Stenger (i.E.): Plurale Transformationsbewegungen von ‚Bildung für nachhaltige Entwicklung‘ in der Pädagogik der frühen Kindheit. In: Bianca Bloch, Anna-Katharina Kaiser, Ina Kaul & Sebastian Rost (Hg.): Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Kindheitspädagogik. Beltz Juventa.
Ursula Stenger, Antonina Poliakova (i.E.): Lernen miteinander zu leben: Ethisch-ökologische Perspektiven auf Orte des Aufwachsens in der frühen Kindheit. In: Jens Kaiser-Kratzmann, Lars Burghardt, Andrea Eckhardt, Katrin Lattner und Susanne Viernickel (Hg.) Beltz Juventa.
Stenger, U., Stieve, C., Zirves, M., Vitek, K., Poliakova, A. (2023): Topographien kultureller Räume. Raumqualitäten in Kindertageseinrichtungen. In: Kalicki, B., Blatter, K., Michl, S., Schelle, R. (Hg.): Qualitätsentwicklung in der frühen Bildung. Akteure – Organisationen – Systeme. Beltz Juventa: Weinheim, Basel. S. 141-173
Stieve, C., Stenger, U., Zirves, M., Poliakova, A., Vitek, K., Rapp, L., Heidrich, A.-C. (2023): Wie Raumqualitäten entstehen. Erfahrungsräume in Kindertageseinrichtungen. Weinheim: Beltz.