Allgemeinbildung zwischen Postmoderne und Bürgergesellschaft, eine thematische Einführung
Klaus Künzel
Was in Bezug auf Bildung und Wissen als das 'Allgemeine' gelten kann, erweist sich als eine höchst strittige Angelegenheit und kann heute weniger denn je eindeutig bestimmt werden. Während es einer mannigfach segmentierten Gesellschaft wenig Schwierigkeiten bereitet, die Ausgestaltung von partikularen Lernkulturen und Bildungsauffassungen voran zu treiben, will ihr der Dialog über das Verbindliche und Verbindende im Projekt der allgemeinen Bildung so recht nicht gelingen. Damit ist keineswegs ein spezifisch deutsches Phänomen angesprochen. Andererseits ist unter dem Eindruck der Ergebnisse und Effekte von PISA nicht von der Hand zu weisen, dass das Abschneiden unserer Schüler in diesem parameterorientierten internationalen Bildungswettbewerb zu einer nachhaltigen öffentlichen Auseinandersetzung zwingt. Die Gegenstände dieser Auseinandersetzung sind allerdings nicht schon dadurch zu bestimmen, dass über Maßgaben und Strategien der Mängelbeseitigung nachgedacht wird. Es geht dabei letztlich auch um die Frage, was es um einer erfolgreichen Lebensführung willen zu bewältigen und zu lernen gilt. Zwangsläufig darin eingeschlossen ist die Bearbeitung der politischen und curricularen Aufgabe, die Inhalte und Konditionen des schulischen Lernens daraufhin zu prüfen, inwieweit sie dem Gebot einer angleichenden, d.h. vor allem: Chancen ermöglichenden universellen Bildung verpflichtet sind bzw. worin sie stärker einer milieu- und kulturdifferenzierten Schulidee folgen sollten. Ein nicht ganz beiläufiges Ziel wäre es, das öffentliche Vertrauen in die pädagogische Institution Schule (wieder-) herzustellen und dabei gleichzeitig manch überspannten Erwartungen an ihre Rolle und ihr Leistungsvermögen entgegen zu treten. Dies hat u.a. Jürgen Oelkers angemahnt und davor gewarnt, den Allgemeinbildungsauftrag der Schule so auszulegen, dass darüber ihr Charakter als Lehranstalt in Vergessenheit gerät. Schule habe nämlich die Aufgabe, "kulturelle Fertigkeiten, Basiswissen und Kompetenz in bestimmten Fächern" zu vermitteln, und zwar "immer bezogen auf große Schülerzahlen, auf ein mittleres Leistungsniveau und durchschnittliche Lerngeschwindigkeiten". Bildung sei demgegenüber, wolle man sie 'emphatisch' verstehen, "kultivierter Geschmack und am Objekt geschulte Urteilskraft" - beides seien aber "Lernaufgaben des Lebens und nicht der Schule".(1)
So verlockend die Aufgabe erscheint - dieses Jahrbuch wird sich nicht mit PISA und seinen Folgen für die Erwachsenenbildung befassen.(2) Dagegen spricht u.a. der Umstand, dass von dem Ausmass der bildungspolitischen Bestürzung, die hierzulande eingetreten ist, andernorts aus nachvollziehbaren Gründen nicht die Rede sein kann, wie sich denn auch dort eine - verhalten vorgetragene - Genugtuung über die eigenen nationalen Erfolge und Besserplatzierungen schwerlich mit der Absicht vertrüge, sich über ursächliche Zusammenhänge und dementsprechende Handlungserfordernisse in ähnlich grundlegender Manier den Kopf zu zerbrechen. So haben auch die in Deutschland geführten Diskussionen um mögliche Auswirkungen auf den Bereich der Weiterbildung international keine nennenswerte Entsprechung gefunden. Das kann zunächst einmal nicht überraschen, da es bei der vergleichenden Erfassung von Schülerleistungen primär um die i.e.S. schulpolitischen, sozio-ökonomischen und schulinternen Faktoren ging, die laut PISA für das unterschiedliche Abschneiden der beteiligten Länder - und damit für die z.T. erhebliche Differenz z.B. in Fragen sozialer Segregation und Chancengleichheit - verantwortlich sind.(3)
Ein Blick auf die bildungs- und forschungspolitischen Kontexte von PISA legt indes nahe, die Implikationen dieser internationalen Schulleistungsstudie nicht sektoral, sondern strategisch, d.h. in der Systemperspektive zu betrachten. Demzufolge steht nicht die Frage im Vordergrund, welche geeigneten kompensatorischen oder flankierenden Maßnahmen etwa im Bereich der nachschulischen Bildung in Betracht kommen. Langfristig und strukturell gesehen ist in der Auseinandersetzung mit der OECD-Studie entscheidend, wie sich deren Intentionen und Ergebnisse vor dem Hintergrund der Entwicklungsvorstellungen zur Wissensgesellschaft und zum lebensbegleitenden Lernen würdigen lassen. Genau darum aber geht es PISA: um das 'Lernen für das Leben' und die dafür notwendigen Kompetenzen:
"PISA basiert auf einem dynamischen Modell des lebensbegleitenden Lernens, demzufolge die für die erfolgreiche Anpassung an eine sich verändernde Welt notwendigen neuen Kenntnisse und Fähigkeiten kontinuierlich über die gesamte Lebensspanne hinweg erworben werden. PISA legt den Schwerpunkt auf Aspekte, die 15-Jährige in ihrem späteren Leben brauchen werden, und erhebt, was sie mit dem Gelernten anfangen können. (...) PISA erhebt das Wissen von Schülerinnen und Schülern, aber ebenso deren Fähigkeit, über dieses Wissen und ihre Erfahrungen zu reflektieren und beides auf realitätsnahe Fragen anzuwenden. (...) Der Begriff 'Grundbildung' (literacy) wird verwendet, um dieses breitere Konzept von Kenntnissen und Fertigkeiten abzudecken."(4)
In diesem Sinn allerdings kann keine Publikation zu internationalen Fragen der Erwachsenenbildung an PISA vorbeisehen. Zwangsläufig führt die Frage nach nationalen Schulleistungprofilen zur Analyse und Bewertung der Bedingungen, unter denen sich die Rede vom lebensdienlichen Lernen derzeit politisch und sozial Geltung verschaffen und nachhaltige Strukturen ausbilden kann. Das ist das Eine. Darüber hinaus aber manifestiert sich in den Prämissen dieses internationalen Vergleichs und seiner konzeptionellen Ausrichtung die Strategie supranationaler 'stakeholders' wie OECD und EU, valide und tragfähige Kriterien für die Festlegung von 'Schlüsselkompetenzen' zu ermitteln. Von ihnen wird nichts weniger erwartet, als dass sie die Dominanz und Einseitigkeit curriculumzentrierter und fachbasierter 'skill'-Didaktiken überwinden und als konzeptionelle, empirisch fundierte Stützen eines übergreifenden Rahmens menschlicher Lebensbefähigung dienen sollen - (fit to) "capture the full range of relevant outcomes needed for a successful life and a well-functioning society".(5) Gemeinsam mit dem Statistischen Bundesamt der Schweiz hat sich die OECD seit 1997 dieser Aufgabe gewidmet und eine Studie namens 'Definition and Selection of Competencies: Theoretical and Conceptual Foundations' (DeSeCo) auf den Weg gebracht:
"(Its) mission is to contribute to broaden indicators by including competencies that are not directly related to economic productivity and competetiveness, such as participation in civic society and personal fulfillment, and by exploring competencies which may be encouraged by means other than formal schooling."(6)
In Anbetracht der 'inklusiven' Anlage des hier entwickelten Kompetenzverständnisses wäre es reizvoll, dessen inhaltliche und formale Position in Abgrenzung zu tradierten pädagogischen Begriffen wie 'general knowledge', 'Allgemeinbildung' oder 'culture générale' zu bestimmen. Dass ein solcher diskursübergreifender Versuch bislang nicht ernsthaft unternommen worden ist, hat eine Reihe von Gründen, denen hier nur andeutungsweise nachgegangen werden kann. Eine gewichtige Rolle spielen dabei zwei Faktoren, beide mit ausgesprochen politischen Konnotationen. Der erste Faktor verdankt sich dem Zusammentreffen und der gegenseitigen Verstärkung von weitreichenden Veränderungen, die aus dem Prozess der europäischen Vereinigung sowie aus den biographischen und sozialen Auswirkungen der fortschreitenden Globalisierung hervorgehen. Die vielstimmigen Reaktionen auf die Herausforderungen allfälligen Wandels vereinen sich nachweislich nicht im Ruf nach (Allgemein-) Bildung, sondern nach Kompetenz und der konsequenten Aktivierung von Humanressourcen. Im öffentlichen Umgang mit Veränderung scheint dem Konstrukt der 'Kompetenz' mehr Vertrauen entgegen gebracht zu werden als einem schwer zugänglichen kulturalistischen Konzept, das selbst in den Debatten der pädagogischen Fachvertreter diffus bleibt. Mit dem zweiten Faktor verbindet sich die politische Maxime, die forschungsstrategischen und methodologischen Diskurse um 'key competencies' interdisziplinär anzulegen und auf transnationale Verwertungszusammenhänge auszurichten. Das macht konsensfähige Begrifflichkeiten und empirische Ermittlungsverfahren erforderlich, die ihrerseits auf operationable Erfolgs- bzw. Messstandards angewiesen sind. Es ist daher leicht nach zu vollziehen, wenn sich in diesem Zusammenhang funktionale Sprach- und Legitimationspraxen durchsetzen, die im Sinne der Auffassungen von Weinert(7) vor allem den 'externen' Pol des Kompetenzphänomens betreffen: "A competence is the ability to meet a complex demand or carry out a complex activity or task".(8) Es ist unschwer zu erkennen, dass mit der Bevorzugung einer anforderungsorientierten Taxonomie menschlicher Fähigkeiten die Betonung des 'output' von Bildungsinvestitionen und individuellem Lernen einher geht. PISA ist dafür ein Beispiel. Letztlich gilt der Maßstab funktionaler Zweckdienlichkeit aber nicht nur für die sichtbaren Erscheinungen einer lebensweltlich ausdifferenzierten und graduell gestuften Handlungsfähigkeit. Ihre zu Grunde liegende pragmatische Räson zwingt auch die internen Repräsentationsformen menschlicher Kompetenz zu einer schlüssigen Gesamtdisposition: "It is the demand, task or activity which defines the internal structure of a competence, including the interrelated attitudes, values, knowledge and skills that together make effective action possible".(9) Spätestens hier wäre ein Veto pädagogischer bzw. bildungstheoretischer Provenienz zu erwarten, einer der Gründe wohl, warum darauf verwiesen wird, der Gegenstandsbereich 'human competencies' gehöre nicht zur 'exklusiven Domäne traditioneller pädagogischer Forschung'.(10)
Die mit der 'Harmonisierung' externer und interner Kompetenzfaktoren verbundenen Gefahren der Engführung und der Ausblendung wesentlicher Konstitutionsmerkmale menschlichen Entfaltungsvermögens sind den Verfasserinnen des hier zitierten 'Diskussionspapiers' der DeSeCo-Studie nicht verborgen geblieben. Indem sie den Blick richten auf die Frage nach dem, was das Konstrukt der 'Schlüsselkompetenz' in Abgrenzung zu dem der 'Kompetenz' auszeichne und wozu Menschen überhaupt Kompetenzen benötigten, bringen sie die Vorstellung vom 'gelingenden Leben' (11) ins Spiel, eine Ziel- und Handlungsperspektive, die den zu Grunde gelegten Humankapitalansatz um den individuellen und sozialen Faktor 'Lebensqualität' erweitern soll. Darin liege gleichsam der 'Schlüssel' für die legitimatorische Bewältigung der normativen Implikationen von Kompetenzstandards.
Nun haben sich derartige begriffliche Differenzierungen international noch keineswegs durchgesetzt; erhebliche Auslegungsspielräume sind die Folge. Gleichwohl: Das Bemühen, die laufenden kompetenztheoretischen Verständigungsprozesse konzeptionell und empirisch breit zu lagern, dürfte ein Indiz dafür sein, dass die funktional-pragmatische Ausrichtung der individuellen Lebensführung zunehmend unter den Einfluss von Vorstellungen gerät, die der alltagskulturellen Vielfalt und den subjektiven Lernpraxen (post-) moderner Lebenswelten geschuldet sind. In Begriffen wie 'life skills' wird dieser extensiven Auslegung Rechnung getragen.
Also Schlüsselkompetenzen und 'life skills' statt Allgemeinbildung? Drängt sich die Verabschiedung eines so missverständlichen pädagogischen Konstrukts nicht geradezu auf, wenn es in den laufenden kompetenztheoretischen Diskursen erklärter Maßen ebenfalls um den 'ganzen Menschen', seine unabschließbaren Möglichkeiten und das anzustrebende gelingende Leben geht? Ist nicht die Rede von allgemeiner Bildung schon dadurch diskreditiert worden, dass sie tautologisch verfährt und in der gesonderten Bezeichnung dessen, was für Bildung ohnehin konstitutiv sei, zu deren Bedeutungsverlust beiträgt?(12)
Wird diese Option etwas ausführlicher bedacht, stößt man hierzulande auf ein merkwürdiges Phänomen: Im gesellschaftlichen Alltag hat Allgemeinbildung Konjunktur, als erziehungswissenschaftliches Thema findet es dagegen kaum Anklang. Während in zahllosen Initiativen, Netzwerken und Modellversuchen um eine Modernisierung der Bildungsmittel, um mediale Verbundformen und um lebenslang offene Vertriebswege des Lernens gerungen wird, scheint sich die öffentliche Beschäftigung mit dem, was im Hinblick auf die inhaltliche Gestalt unserer Bildung als generalisierungs- und zustimmungsfähig fest gehalten werden kann, eher außerhalb des pädagogischen Fachgesprächs zu bewegen. Thesenartig zugespitzt: Die zeitgenössische Deutungsaufgabe 'Allgemeinbildung' ist im Begriff, an vertrauten Zuständigkeiten der kulturellen Selbstverwaltung vorbei in neuen Zusammenhängen und gewisser Maßen plebiszitär verfolgt zu werden: in den Unterhaltungsformaten der Medien, im zwischenmenschlichen Spiel- und Wissensverkehr, in der Begegnung mit dem Fremden, in den aktuellen Auswahlverfahren und Assessmentansätzen der personalwirtschaftlichen Praxis. Dazu passt, dass in populären, der gesellschaftlichen Konversation gewidmeten Handbüchern und Lexika der Versuch unternommen wird, "alles, was man wissen muss" kanonisch zu fixieren und so die Verleihung des "'Bürgerrechts' im Land der Bildung" zu ermöglichen.(13)
Spätestens an dieser Stelle muss eine begriffliche Klarstellung erfolgen, die für die Einordnung und Beurteilung der gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex 'Wissensgesellschaft, Bildung und Kompetenz' (14) unerlässlich scheint, in unseren bisherigen Ausführungen aber vernachlässigt worden ist. Gemeint ist der tendenziell undifferenzierte Gebrauch von 'allgemeiner Bildung' und 'Allgemeinbildung'. Ohne seine Klärung lässt sich auch die oben aufgeworfene Alternative: (Schlüssel-)Kompetenzen oder (Allgemein-)Bildung nicht bearbeiten. Im Rahmen eines solchen Versuchs wird sich zweierlei zeigen: Zunächst tritt in der Gegenüberstellung von Kompetenz und Allgemeinbildung der bildungstheoretische Basisdisput zwischen formaler und materialer Bildungsvorstellung wieder auf, und wie in jenem geht es auch im Diskurs über Kompetenz um die Frage, inwieweit Prozesse menschlichen Lernens um ihrer 'formgebenden' Wirkungen willen gewollt und gerechtfertigt werden können. Der hier hergestellte Bezug zum Lernen als einer produktiven Quelle allgemeiner, übertragbarer Fähigkeiten entspricht dem weiter oben skizzierten Konzept des bedarfsinduzierten, d.h. extern bestimmten Kompetenzaufbaus. Dem gegenüber ordnet sich das Konstrukt der Allgemeinbildung in die Versuche ein, die sprachlichen und symbolischen Vergegenständlichungen einer Welt, die es zu verstehen und anzueignen gilt, in Gestalt von Wissen und damit 'material' auszuweisen: als Güter, deren kanonisches Gewicht und zugesprochener Bildungswert ihrem Rang im Gefüge der herrschenden Kulturgüterhierarchie entspricht.(15)
Die angestrebte Begriffsklärung weist zum zweiten auf eine Problematik in der deutschen Pädagogik hin, wonach sich auf Grund einer dominanten neuhumanistischen Begründungstradition 'allgemeine Bildung' und 'Allgemeinbildung' zunächst zwar weitgehend als Synonyme verstanden und gemeinsam gegen die wachsenden Ansprüche 'realistischer' Weltauffassungen und beruflicher Arbeit antraten, (16) im Zuge der Vergesellschaftung und institutionellen Durchformung von Bildung semantisch und pragmatisch aber auseinander drifteten. Grob vereinfacht wird man in allgemeiner Bildung heute überwiegend ein programmatisches Prinzip erkennen können, welches - u.a. auf der Basis unterstellter Begabungstypen - dazu heran gezogen wird, Organisationsstrukturen des öffentlichen Schulwesens abzuleiten, zu rechtfertigten und zu perpetuieren. Im Schulbereich wird allgemeine Bildung zum "wichtigste(n) Instrument, das hierarchische Berechtigungssystem durchzusetzen". (17) Ein zweites zentrales Kennzeichen der pragmatischen Positionierung allgemeiner Bildung ist aufs engste mit deren doppelter Funktion als Medium der Persönlichkeitsbildung und als gesellschaftliche Instanz der 'Sicherung von Lernfähigkeit' verbunden. H.E. Tenorth hat in seinem perspektivischen Aufriss der Möglichkeiten allgemeiner Bildung den inneren Zusammenhang von Universalisierungsmotiv und gesellschaftlichem Kompetenzbedarf herausgearbeitet:
"Im Begriff der allgemeinen Bildung wird als gesellschaftliche Aufgabe fixiert, daß unsere Kultur im Wandel der Generationen die für sie unentbehrlichen Kompetenzstrukturen - sowohl kognitiver wie moralischer, praktischer wie ästhetischer Natur - universalisieren und reproduzieren muß, wenn sie ihr Funktionieren nicht stören, sondern (...) sichern und steigern will. (...) Allgemeine Bildung wäre also die Generalisierung universeller Prämissen für Kommunikation. (...) Mit der Verbreitung und je subjektiven Sicherung einer auf Lernen (...) orientierten Form des Umgangs mit Problemen hat allgemeine Bildung deshalb nicht nur eine auf die Bildung der Persönlichkeit, sondern auf die Funktionsweise von Gesellschaft zielende Dimension."(18)
Inwiefern lässt sich die oben getroffene Feststellung eines 'Auseinanderdriftens' der inhaltlichen Konnotationen von allgemeiner Bildung und Allgemeinbildung rechtfertigen? Wenn allgemeine Bildung begriffen wird als strukturbildendes Programm und als investive Aufgabe, der dualen Zielsetzung individueller und gesellschaftlicher Kompetenzentwicklung Rechnung zu tragen, worauf könnte sich eine nicht-synonyme Verwendung des Begriffs 'Allgemeinbildung' dann beziehen?
Im Rückgriff auf die vorstehend geäusserte These, die 'zeitgenössische Deutungsaufgabe Allgemeinbildung' werde heute nicht in professionellen Zusammenhängen aufgegriffen, sondern gleichsam 'plebiszitär' verfolgt, kann hier ergänzt werden: Im Begriff 'Allgemeinbildung' verschieben sich zusehends die Akzente von einer bildungstheoretischen und -politischen Argumentationsposition zu einer sozialen, alltagskulturell geprägten Betrachtungsweise. Indizien dieses Wandels lassen sich vor allem dort nachweisen, wo, teilweise unausgesprochen und mittelbar, um die Gestalt und inhaltliche Füllung der gesellschaftlichen Qualifikationsgrundlagen verhandelt wird. Wohl gemerkt: Dies bringt sich nicht als deklarierter Vorgang zu Bewusstsein, die Prüfung und latente Reformulierung dessen, was man je nach Betrachterperspektive in das Kontinuum von Verbrauchs-, Konversations- und Bildungswissen einordnen möchte, geschieht schleichend, subkulturell differenziert und durch einen vielzweigigen Medientransport ermöglicht. Indem es in soziale Vermittlungs- und Verständigungsprozesse eingebunden ist und unter dem Einfluss eines dynamischen Kulturverständnisses steht, ist die sich hier andeutende 'populäre' Lesart von Allgemeinbildung weder von einem historisch-pädagogischen Akkreditierungsprozess abhängig noch verpflichtet sie das in Rede stehende Wissen auf einen Status kanonischer Eindeutigkeit und Würde. Ihren zentralen Bezugspunkt findet die gesellschaftliche Kommunikation über Allgemeinbildung in der Erschließung und Anerkennung lebensweltlicher Pluralität; das Allgemeine entfaltet sich nicht im Kodex, sondern im Panoptikum des gelebten Alltags.
Dergleichen geschieht an vielen Umschlagplätzen gesellschaftlichen Wissens. Alltagskulturell säkularisiert wird Allgemeinbildung vor allem mit Hilfe des Fernsehens, wo populäre Quizshows der Sichtung und Gewichtung von Wissbarem einen vergnüglichen Rahmen schaffen und ein Millionenpublikum in ihren Bann ziehen. Auch wenn es dabei nicht um Bildung im 'emphatischen' Sinne geht - an der nach innen gewendeten Seite solchen Bemühens wird schwerlich ein Massenmedium Interesse zeigen - das öffentliche Spiel mit verschiedenen Stoffen und Gegenständen unseres 'Weltwissens' kann als Indiz, ja Mittel seiner materiellen und sozialen Neubestimmung eingestuft werden. Medienhistorikern und -soziologen ist bei solchen Sendeformaten das Bild vom 'Seismographen kultureller Veränderung' eingefallen, und die Journalistin Sonja Zekri meint gar, dass das weltweit verbreitete 'Millionär'-Quiz "ein neues populistisches Verständnis von Bildung" signalisiere.(19) Dergleichen Urteilen mag man durchaus skeptisch gegenüber stehen und die Popularität dieser Sendungen als normale Erscheinung im konjunkturellen Wandel des Publikumsgeschmacks betrachten. Am Umstand, dass breit gefächertes Wissen eine gestiegene soziale Wertschätzung erfährt, wird man kaum vorbeisehen können. Die Pointe dieser Entwicklung liegt m.E. jedoch darin, dass die in ihr vollzogene Verkürzung von pädagogisch reflektierter 'Allgemeinbildung' zur lebensweltlichen Urwüchsigkeit eines neuen 'Allgemeinwissens' nicht in eine undifferenzierte Einebnung der geltenden Statusunterschiede zwischen verschiedenen Kategorien des Wissens einmündet. Es macht nach wie vor einen Unterschied, ob ein Quizkandidat beim Namen einer Boy Group passen muss oder an einem naturwissenschaftlichen Term, einer literarischen Figur oder einem deutschen Mittelgebirgszug scheitert. Die Reaktionen von Moderator und Publikum können über solche Unterschiede beredt Auskunft geben.
Andererseits darf die implizit normative Wirkung dieser 'bildungsbürgerlichen' Prämissen auf dem Weg von der 'Allgemeinbildung' zum 'Allgemeinwissen' nicht überschätzt werden. Gerade in seiner öffentlichen, zu Unterhaltungszwecken inszenierten Gestalt des 'Quiz' geht es immer auch um eine möglichst breite Beteiligung des Fernsehpublikums an den sich verändernden Anliegen der gesellschaftlichen Konversation. Wer an den bevorzugten im Gespräch befindlichen Themen mangels einschlägiger Kenntnisse nicht teilnimmt, kann eben nicht 'mitreden'. Die medial vermittelte - und durch Quoteninteressen massiv begünstigte - Vergesellschaftung und alltagkulturelle Aufwertung profanen Wissens wird damit zu einer wichtigen Voraussetzung gelingender Kommunikation - nicht nur in definierten Milieus und Szenen, sondern in einem prinzipiell offenen Raum sozialer Interaktion und Geselligkeit.
Wenn unlängst 'Die Zeit' unter ihrer Rubrik 'Chancen' verkündete, Allgemeinwissen sei "nie (...) so populär wie heute" gewesen und in diesem Zusammenhang das Bochumer Testverfahren 'Bowitt' vorstellt, mit dem "das Wissen eines Menschen objektiv und zuverlässig" gemessen werden könne, (20) so bestätigt sie damit einerseits die skizzierte Interessen- und Geschmackslage vieler Zeitgenossen, andererseits drückt sich in der betreffenden Artikelüberschrift "Das müssen Sie wissen!" ein deutlich normativer, ja selektiver Zug der aktuellen Allgemeinbildungswelle aus. Gesamtkulturell anerkanntes und - zumeist - wissenschaftlich verbrieftes Wissen wird in eine Position der Regulierung sozialer Chancen und des beruflichen Fortkommens befördert. Dabei sind im Gegensatz zu Schwanitz' Bildungskatechismus Technik, Naturwissenschaft und politisch-ökonomische 'Realien' zwar eingeschlossen, die regulative Figur des 'Allgemeinen' zwar stofflich spürbar erweitert(21), der latente soziale Positionierungseffekt, der im Konstrukt einer 'guten Allgemeinbildung' - hierin dem 'kulturellen Kapital' bei Bourdieu vergleichbar(22) - zum Tragen kommt, ist aber hier wie dort in Situationen kommunikativer Bewährung eingelassen. Insofern entspricht das ironisch zugespitzte Diktum von Dietrich Schwanitz: "Bildung ist die Fähigkeit, bei der Konversation mit kultivierten Leuten mitzuhalten, ohne unangenehm aufzufallen"(23) durchaus einer sozialen Praxis, die darauf bedacht ist, Menschen mit Hilfe einer kulturellen 'Vermögensprüfung' zu unterscheiden, um damit z.B. Entscheidungen der Personalauswahl und -förderung zu unterstützen. Neben formalisierten Verfahren (z.B. Assessment Centres) kommt dabei informellen Prozessen der wissensdiagnostischen Bewerberauswahl eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu: "Wer sich mit dem Chef über Shakespeare oder Sloterdijk unterhalten kann, der gehört zum Club".(24)
Die bislang angedeuteten Wandlungen und Schattierungen in der alltagssprachlichen Bezeichnungspraxis 'Allgemeinbildung' lassen erkennen, dass die materiale Ausprägung kommunikationstüchtigen Wissens lebensweltlich und funktional differenziert, mit Blick auf die damit einher gehenden Chancen gesellschaftlicher Gratifikation aber keineswegs beliebig ist. Ferner ist noch einmal hervor zu heben, dass Allgemeinbildung im heutigen populären Wortgebrauch faktisch im 'Allgemeinwissen' aufgeht. Das entspricht im übrigen dem englischen Sprachgebrauch: Hier verweist 'general knowledge' auf den gesellschaftlich anerkannten universellen Kern des gesamtkulturellen Wissens, während - dem deutschen Konzept von 'allgemeiner Bildung' vergleichbar - die durch die Instanzen schulischer Sozialisation vermittelte, zu Berechtigungen führende Bildung unter 'general education' geführt wird. Ähnlich verhält es sich mit dem französischen 'culture générale', in der, wie der weiter unten abgedruckte Beitrag von Philippe Perrenoud verdeutlicht, am gesellschaftlichen Lebensbezug einer universell verfassten materialen Bildungsidee fest gemacht wird, wie sie aber von den Institutionen der allgemeinen Bildung - 'enseignement général' - mit ihren "verengten curricularen Horizonten" gerade nicht eingelöst wird.(25)
Mit dem Hinweis auf die emergenten Strukturen und Wissensgrundlagen heutiger Allgemeinbildung kann in unserem Zusammenhang zweierlei gezeigt werden. Erstens macht es offenbar weder Sinn noch erscheint es statthaft, den Prozessen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um ihre Wissensgrundlagen und -vorlieben mit dem Begriff der (Schlüssel-)kompetenzen den kulturellen Boden zu entziehen oder sie inhaltlich zu entkernen. Die zuvor aufgeworfene Frage, ob nicht 'Allgemeinbildung' ihre diesbezügliche begriffliche Leitfunktion zugunsten von 'Kompetenz' - nebst diverser verwandter Aggregate - aufgeben solle, wäre damit entschieden. Am sozialen und kulturellen Konstrukt der Allgemeinbildung bzw. des Allgemeinwissens muss festhalten, wer die substanzielle Aushandlung der thematischen Anliegen und 'stofflichen' Grundlagen einer Gesellschaft nicht für obsolet erklären oder sie dem bürgerschaftlichen Diskurs entziehen möchte. Das aber führt hin zum zweiten Punkt, um den es hier geht. Sich mit den hergebrachten Selbstverständlichkeiten des eigenen kulturellen Raum-Zeitgefüges zu befassen und ihren Geltungsgrenzen auf die Spur zu kommen, ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe, zu der es keine echte Alternative gibt. Das ist nicht nur der Einsicht geschuldet, in postmodernen Umständen zu leben und der 'Unübersichtlichkeit' und Komplexität heutigen Daseins dadurch Tribut zahlen zu müssen, dass "eine allgemeinverbindliche wissenschaftliche Aufklärung, ein intersubjektives, widerspruchsfreies und belegbares Wissen (...) nicht mehr möglich scheint".(26) Zu den erkenntnistheoretisch und zivilisationskritisch begründeten Zweifeln am Mythos der Moderne tritt das politische und soziale Programm, angesichts der allgegenwärtigen Erfahrungen kulturellen und biographischen Fremdseins nach Wegen der Verständigung über die gleichrangigen Ziele des Umgangs mit Differenz und der Stiftung von Gemeinsinn zu suchen. Dies kann sich nicht in der Formulierung abstrakter Kompetenzideale erschöpfen, wie auch nicht erwartet werden darf, dass die aufgeklärte republikanische Idee der Allgemeinbildung in pädagogischen Expertendialogen eine empirisch fassbare kulturelle Gestalt annehmen kann. Eine derartige Deutungs- und Fundierungsarbeit bleibt den Erfahrungen und der Willensbildung des bürgerschaftlichen Alltags vorbehalten. Dabei ist die plebiszitäre Reformulierung von Wissenswertem samt ihrer medialen Verpackung in Unterhaltungsformaten nur eine der legitimen Optionen postmoderner Lernkulturentwicklung. Wie sich in Gesellschaften, deren Charakter nur noch multiperspektivisch im Nebeneinander bzw. in der Überlagerung von prägenden Attributen erfasst werden kann, bspw. 'Fundamentalia politischen Wissens und politischer Bildung' erschließen lassen, ist zwar eine offene, mitnichten aber eine überflüssige Frage.(27) Insofern ist das im Titel dieses Jahrbuchs angedeutete Spannungsverhältnis zwischen Postmoderne und Bürgergesellschaft ein zutiefst ambivalentes, kritisches. Das durch die Zweifel am Kurs der Moderne brüchig gewordene Vertrauen in die Gewissheitsgrundlagen und normativen Leitansprüche der westlichen Zivilisation zwingt dazu, die Orientierungs- und Wertgrundlagen zu verhandeln, die produktive Formen gesellschaftlicher Koexistenz ermöglichen, ohne die strittigen Fragen der Universalisierungstauglichkeit bestimmter Bildungs- und Wissenskonzepte auszuklammern. Eine Bürgergesellschaft, die in internationale Zusammenhänge eingebunden und massiven Globalisierungszugriffen unterworfen ist, kann sich zudem nicht darauf beschränken, die programmatische Figur des lebenslangen Lernens als individuell zu beherzigende Verhaltensnorm ins Leben zu rufen, auch wenn über die Triftigkeit der Gründe Einvernehmen bestehen mag. Konzeptionell profilieren kann sich die Zivilgesellschaft vor allem dadurch, dass sie sich ihrer postmodernen Betriebsbedingungen bewusst wird und sich lernend darauf einrichtet. Doch was könnten ihre 'Lernziele' sein? Reflexivität und kulturkritische Emphase allein dürften den Herausforderungen einer komplexitätsstiftenden gesellschaftlichen Entwicklung kaum gerecht werden. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, sich der Vorstellung einer republikanischen Verfassung von Allgemeinbildung zu nähern. Sie müsste lebensumspannend gedacht und im raum-zeitlichen Kontinuum sozialer und kultureller Bewegung verankert werden. Wesentliches Gewicht kommt dem Nachdenken darüber zu, wie sich in der Idee des Allgemeinen die Grundmotive der Solidarität und Bescheidung Geltung verschaffen können. Eine 'postmoderne' Antwort darauf könnte lauten: indem u.a. darauf verzichtet wird, individuelles und bürgerschaftliches Lernen am Ideal vollkommener Verfügbarkeit auszurichten. Dies wird hier in einem zweifachen Sinn aufgefasst: einmal als kritische Distanznahme zu den normativen Vereinnahmungen einer öffentlichen Kompetenz- und Bildungsdoktrin, zum zweiten als bewusstes Eintreten für eine respektvolle Haltung gegenüber den natürlichen und kulturellen Grenzen, die unserem Existenzstreben und unserem Gestaltungswillen gezogen sind. Die Beachtung solcher Grenzen erleichtert die Erkenntnis, dass nicht alles Mögliche auch getan, nicht alles Denkbare auch gelernt werden muss.
Die im vorliegenden Jahrbuch versammelten Beiträge erheben nicht den Anspruch, das Tableau der angerissenen Fragen und Themen in systematischer Absicht abzuhandeln. Maßgeblich für die Erschließung und Rahmung der diesjährigen Problemstellung ist die durchgängige Verunsicherung angesichts der vielfältigen Herausforderungen, mit denen die Subjekte und Systeme des allgemeinen Bildungsschaffens konfrontiert sind. Bei der Auswahl der Autoren und inhaltlichen Akzente haben wir uns von der Vorstellung leiten lassen, dass sich Hinweise auf die Konturen und Zusammenhänge des aktuellen Themas vor allem aus der perspektivischen Überlagerung der einzelnen Zugänge und Argumentationslinien ergeben. Wie schon in den vorauf gegangenen Bemerkungen angedeutet, wird das historische und soziale Konstrukt der 'Allgemeinbildung' dem Zugriff verschiedener Diskursinteressen geöffnet. Doron Kiesel und Fritz Rüdiger Volz nähern sich ihm in grundlegender bildungstheoretischer Weise, indem sie den wechselseitigen Bezügen und Anspruchsvoraussetzungen von Lebensführung, Bildung und Interkulturalität nachgehen und dabei dem Widerstreit zwischen universalistischen und relativistischen Kulturvorstellungen ihre verstärkte Aufmerksamkeit widmen. Damit leisten sie für die Einordnung der folgenden Beiträge einen wertvollen Dienst, denn die Legitimität von Forderungen nach Allgemeinbildung lässt sich besonders dort erörtern, wo das Gelingen interkultureller Bildungsprozesse in exemplarischer Absicht geprüft wird.
Richard Bagnall vertritt mit seinem Aufsatz über 'General Knowledge in Times of Ambiguity' die epistemologische und kulturalistische Seite des Bemühens um eine zeitgemäße Gestalt des Allgemeinwissen im Einflussbereich postmodernen Denkens. Dabei wird dem Leser auffallen, dass der Verfasser 'general knowledge' durchaus auch als Produkt schulischer Sozialisation begreift und die daraus abzuleitenden Kompetenzen als allgemein anerkennungsfähig versteht, insoweit damit an das Bild des verantwortlichen Erwachsenen und einer 'civilised existence' angeknüpft wird.
In dieser Einführung ist bereits auf Philippe Perrenoud hingewiesen worden, der sich mit den funktionalen Ambivalenzen und Friktionen befasst, die für das gegenwärtige französische Schulwesen prägend sind. Zentral ist für ihn die Frage nach dem Allgemeinwissen (culture générale), das die Pflichtschule vermittelt und das als existenzielle Grundbildung auf das Leben vorbereiten sollte, tatsächlich aber nahezu ausschließlich an den Aufgaben propädeutischen Lernens für weiterführende Bildungsgänge (études postobligatoires) ausgerichtet ist.
'Allgemeinbildung in einer vieldeutigen Zeit' ist das Anliegen von Gerhard Neuner. Auf der Grundlage eines bildungsgeschichtlichen Überblicks lenkt sein Beitrag die Aufmerksamkeit des Lesers auf die funktionalen und inhaltlichen Unterschiede zwischen einem schulisch verantworteten Verständnis allgemeiner Bildung und 'Allgemeinbildung' im Sinne des Aufgabenverständnisses von Erwachsenenbildung. Mit dieser Wendung schlägt der Verfasser einen thematischen Bogen, der von den drei folgenden Beiträgen näher ausgestaltet bzw. differenziert wird (Siebert, Hufer, Schlutz).
Horst Siebert geht in seinen Bildern vom 'gebildeten Menschen' der aktuellen Frage nach, wie sich in postmodernen Zeiten die regulative ethische Idee der Bildung aufrecht erhalten und rechtfertigen lässt. Sein Plädoyer tritt ein für ein begriffliches Konzept, welches das nach wie vor konstitutive Verhältnis von Ich und Welt im Angesicht der heutigen Lebensverhältnisse konstruktivistisch ausdeutet, was soviel heisst wie die Vielfalt des menschlichen Wissens und die verwickelten, unanschaulichen Bezüge unseres Lebens anzuerkennen und dem Bild vom mündigen Erwachsenen als Herausforderung an seine 'Lebenskunst' einzuverleiben.
Aus einer konstruktivismuskritischen Position greift Klaus-Peter Hufer den 'Kanonverlust' der politischen Bildung auf, für dessen Urheber er die durch den Konstruktivismus betriebene 'Subjektivierung der Bildung' hält. Auch in der Politikdidaktik lasse sich mittlerweile eine 'postmoderne Schule' ausmachen. Diesem Befund hält der Verfasser ein Programm zivilgesellschaftlicher Bildung entgegen, das er in seinem Beitrag lerninhaltlich nur andeutet, insgesamt aber auf ein Kompetenzprofil 'aktiver' Bürgerschaft festlegt.
Der Arbeit von Erhard Schlutz verdankt das vorliegende Jahrbuch aufschlussreiche Hinweise auf die empirische Gestalt des Allgemeinwissens, wie es sich im Nachfrageverhalten von Teilnehmern an Programmen der Erwachsenenbildung darstellt. Dabei stellt sich heraus, dass einem beträchtlichen Anstieg im Angebotssegment 'Alltagskompetenzen' ein 'Kurssturz' in Bereichen der klassischen Wissensvermittlung gegenüber steht. Der Autor verbindet damit u.a. die Hypothese, dass neue Formen der - medial und institutionell gestützten - Wissensaneignung bevorzugt und gesucht werden, die "eine Erfahrungsbildung nach Art der primären Erfahrung im unmittelbaren Umgang ermöglichen".
Die Hinwendung zu den informellen Kontexten und Inszenierungsformen der Allgemeinbildung markieren die beiden folgenden Beiträge. Hans Paukens widmet sich der Bildungsrelevanz moderner Unterhaltungsformate, unter denen insbesondere die Quizshows hervorstechen. Mit Verweis auf die veränderte Rolle des Fernsehens und angesichts des bildungstheoretischen Paradigmenwechsels in Richtung auf Aneignung und Selbststeuerung wird im subjektiven Rezeptionsinteresse und -verhalten des Fernsehzuschauers ein Faktor gesehen, der weitgehend darüber entscheidet, ob die modernen Ausprägungen des Unterhaltungsfernsehens als Varianten informeller Bildungsprozesse angesehen werden können. Mit ähnlicher Intention versucht Michael Schramm die Frage nach dem Bildungscharakter von wissensorientierten Gesellschaftsspielen zu untersuchen. Auch hier dominiert nach Auffassung des Autors zwar eindeutig der Charakter der unterhaltenden Freizeitbeschäftigung, es lässt sich aber nachweisen, dass elementare Spielmotive in Verbindung mit einem breiten Spektrum vielfältigster Wissensgebiete und einem handlungsstrategischen Anforderungsgehalt aktivierende Anlässe und Kontexte informellen Lernens darstellen. Des weiteren wird an ihre methodische Funktion in diversen pädagogischen Anwendungsbereichen erinnert.
Bill Williamson vertritt mit seiner Studie 'Lifelong Learning and Everyday Life' einen soziologischen Zugang, der die lebensweltlichen Bedingungen und Anknüpfungspunkte lebensumspannenden Lernens fokussiert. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht das Interesse an den Lernvorgängen, mit denen sich Menschen ihre Welt aneignen und versuchen, deren Strukturen und Handlungen Sinn zu verleihen. Das 'Allgemeine' tritt dabei auf als Inbegriff einer unabschließbaren sozialen Lernaktivität, die zur Selbstaufklärung der zivilen Gesellschaft ebenso beiträgt wie zu ihrer politischen Stabilisierung.
Am Beispiels Finnlands zeigt Ari Antikainen, dass Identitätsentwicklung, die sich über die Anfertigung und Umschreibung persönlicher Lebensskripte sowie über individuelle Lerngeschichten vollzieht, auch in einer hochentwickelten Informationsgesellschaft auf persönliche und soziale Beziehungsnetze angewiesen ist. Die biographische Bedeutung von Bildung und Lernen wird vom Verfasser anhand der Untersuchung verschiedener Alterskohorten ausgewiesen; sein Hinweis auf 'significant learning experiences' erlaubt es dem Leser, hinter solchen Prozessen eine biographisch und lebensweltlich vermittelte Vorstellung 'allgemeiner' Bildungsprozesse zu erkennen.
Nicht von ungefähr steht der Aufsatz von Arthur L. Wilson und Ronald M. Cervero am Schluss der abgedruckten Beiträge. Mit der erklärten Hinwendung zur politischen Praxis der Erwachsenenbildung wird in gewisser Hinsicht ein professionstheoretisches Resümee gezogen, das von der postmodernen Prämisse ausgeht, die gesellschaftliche Positionierung von Erwachsenenbildung könne sich nicht mehr nach dem Modus einer szientifischen Aufklärungspraxis, sondern nur so vollziehen, dass ihr Charakter als "practical activity in a world structured by power relations" zur Geltung kommt. Die Autoren gehen der Frage nach, wie sich die Profession der Weiterbildner in ihrer Funktion als 'knowledge power brokers' einrichten können und welche Sachverhalte, Interessen und Beziehungen dabei zur Verhandlung anstehen. Pädagogisch Tätige im Feld der Erwachsenenbildung sind demnach "social activists who directly intervene in people's lives to determine who benefits from adult education and in what ways". Indem die Verfasser unter Verweis auf Foucault und Winter das relationale Moment und die sozialstrukturelle Textur von 'Macht' hervorheben, weisen sie das pädagogische Bemühen um die Verteilung und Transformation von Wissen als ein eminent politisches Phänomen aus.
Der Verfasser bedankt sich bei den Autoren des diesjährigen Bandes für die Vielzahl anregender und aufschlussreicher Hinweise - zu einem Thema, dessen theoretische Behandlung wie kaum ein zweites standortlich geprägt scheint, auf vielfältigste Praxen der Bildung verweist und begrifflich wie empirisch zu manchen Sorgenfalten Anlass gibt.
In diesen Dank möchte ich vor allem meine Mitarbeiterin Ulrike Devers-Kanoglu einbeziehen, die nicht nur einen umfangreichen Bericht über eine Tagung des Grimme Instituts zum 'Quizboom' beigesteuert hat, sondern der auch für die überaus umsichtige und engagierte redaktionelle Unterstützung von Herausgeber und Verfassern des Jahrbuchs 2002 eine herzliche Anerkennung auszusprechen ist.
Summary
Which skills and competencies do societies require to secure their competitive position and to provide for their citizens a life of decency and success? Questions such as this are characteristic of the ambitions of governments and supra-national bodies to evaluate and benchmark the educational outcomes of education. Whereas the notions of 'competence' or 'key competencies' attract considerable political and scientific attention, the question of what may, or indeed should, constitute the framework and body of 'general knowledge' is a matter open to debate. The 'Yearbook' addresses this issue by inviting authors to reflect on the cultural and social feasibility of what appears to be a construct of modern, enlightened educational thought. What, for instance, can be said about its role in times dominated by forces of globalisation and mental representations of the world impressed by postmodern concepts of uncertainty and ambiguity? Moreover, it was put to contributors that the terms 'general knowledge', 'Allgemeinbildung' or 'culture générale' should be examined in the light of their potential relevance to a model of a civil society in which its members negotiate and define the 'material' substance of knowledge that allows for universal communication and social commitment. It is being suggested that a postmodern way of approaching and arguing the case of general knowledge must not fail to recognise that different lifeworlds and social milieus leave their marks on any such process, turning the ideal of common or universal knowledge into a construct of high ambiguity. The editor finally introduces the authors' contributions by sketching their topics and contextual framework. Readers will note that examples of informal learning and leisure pursuits (like intercultural learning and quiz shows) have been included side by side with suppliers of general knowledge which are more formal in nature (like schooling and adult education).
Fussnoten
1. Oelkers (2002), S. 36.
2. Vergl. dazu Deutscher Volkshochschulverband (2002).
3. OECD (2001), S. 251ff.
4. OECD (2001), S. 14 und 17.
5. Swiss Statistical Office/OECD (2002), S. 3 (DeSeCo-Studie). Es handelt sich um ein Diskussionspapier der Autorinnen Rychen und Salganik, das den Erkenntnisstand der Forschungs- und Konsultationsarbeit innerhalb des DeSeCo-Projekts widerspiegelt und Anregungen für die Formulierung des Schlussberichts liefern soll. Dieser Bericht stand zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags noch nicht zur Verfügung.
6. Ebda.
7. Weinert (2001).
8. Swiss Statistical Office (2002), S. 5.
9. Ebda.
10. a.a.O., S. 6.
11. Man mag darüber streiten, ob diese Übersetzung des im Text gewählten englischen Begriffs'successful life' angemessen ist oder nicht doch eine Spur pädagogisch-anthropologischer Überzeichnung enthält.
12. von Hentig (1996), S. 21ff.
13. Schwanitz (1999), Klappentext.
14. Commission of the European Communities (1997).
15. Klafki (1992).
16. Roth (2001), S. 512ff.
17. Gruschka (1994), S. 205. Der Autor spricht allerdings durchgehend von "Allgemeinbildung", die er mitunter pointiert vom Begriff der ?Bildung? absetzt. Dass die oben getroffene Unterscheidung in allgemeine Bildung und Allgemeinbildung von ihm nicht geteilt wird, erklärt sich aus dem schulpädagogischen Argumentationszusammenhang seiner Ausführungen: Für diesen sind die semantischen Verschiebungen weder nachweisbar noch maßgeblich.
18. Tenorth (1994), S. 100f.
19. Zekri (2001).
20. Die Zeit, Nr.38, 12.September 2002, S. 77.
21. Vergl. dazu die einschlägige Untersuchung von Euler (1999).
22. Bourdieu (1987).
23. Schwanitz (1999), S. 394.
24. Vergl. das Interview mit Rüdiger Hossiep, einem der Autoren des Bowitt; Die Zeit, Nr. 38, 12. September 2002, S. 77.
25. Vergl. den Beitrag von Perrenoud in diesem Band, S. 37ff.
26. Mader (1992), S. 297.
27. Vergl. dazu den Beitrag von Hufer, S. 101ff.
Literatur
Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.
Commission of the European Communities (1997): Towards a Europe of Knowledge. Brussels.
Deutscher Volkshochschulverband (2002): DVV magazin 2/2002. Schwerpunktheft 'Pisa und die Folgen für die Weiterbildung'. Bonn.
Euler, P. (1999): Technologie und Urteilskraft. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs. Weinheim.
Gruschka, A. (1994): Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Erziehung und Gesellschaft. Wetzlar.
Klafki, W. (1992): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim.
Mader, J. (1992): Von der Romantik zur Post-Moderne. Einführung in die Philosophie II. Wien.
Oecd (2001): Lernen für das Leben. Ausbildung und Kompetenzen. Paris.
Oelkers, J. (2002): Und wo, bitte, bleibt Humboldt? In: Die Zeit, Nr. 27, 27.Juni 2002, S. 36.
Roth, L. (2001): Allgemeine und berufliche Bildung. In: Roth, L. (Hg.): Pädagogik. Handbuch fürStudium und Praxis. München.
Schwanitz, D. (1999): Bildung. Alles, was man wissen muss. Frankfurt a. M.
Swiss Statistical Office/Oecd (2002): Definition and Selection of Competencies: Theoretical and Conceptual Foundations (DeSeCo). Symposium Discussion Paper. Neuchâtel.
Tenorth, H.- E. (1994): 'Alle alles zu lehren'. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Darmstadt.
Von Hentig, H. (1966): Bildung. Ein Essay. München
Weinert, F. E. (2001): Concept of Competence: A Conceptual Clarification. In: Rychen, D.S. & Sagalnik, L.H. (Eds.): Defining and Selecting Key Competencies. Göttingen, S .45 - 66.
Zekri, S. (2001): Das Ende der Geschichten. Was Reality TV und Quiz-Boom dem Fernsehen und seinen Produzenten antun. In: Adolf Grimme Institut (Hrsg.): Jahrbuch Fernsehen 2001. Marl.
Prof. Dr. Klaus Künzel, geboren 1945, war nach seinem Studium der Germanistik, Pädagogik und Philosophie an den Universitäten Liverpool, Bochum und Dortmund tätig. Seit 1991 ist er Professor für Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Universität zu Köln.