Die sinnliche Ordnung des Sozialen: Zur Sinneswahrnehmung in sozialen Interaktionen

Die Wahrnehmung mit den Sinnen ist ein selbstverständlicher Teil unseres Alltags. Diese Selbstverständlichkeit rückt zumeist dann ins Bewusstsein, wenn „wir Normalen“ (Goffman 1967[1963], 13) Menschen begegnen, deren körperliche Differenzen an der Kategorie ‚Sinnesbeeinträchtigung‘ festgemacht wird. Insbesondere im Kontext von Taubheit und Blindheit werden die für ‚normal‘ und erwartbar gehaltenen Wahrnehmungsfähigkeiten und Praktiken der Sinneswahrnehmung zum Thema gemacht. Erfahrungen von hör- und sehbeeinträchtigen Menschen belegen beispielsweise, dass sie häufig von Personen ohne Sinnesbehinderung danach gefragt werden, wie sie alltägliche Tätigkeiten (gelernt haben zu) tun, bei denen auditives oder visuelles Wahrnehmen eine zentrale Rolle spielt.

Entgegen der verbreiteten Auffassung von (Nicht-)Behinderungen der Sinne als individuelles Phänomen wird in dieser Dissertation davon ausgegangen, dass auch die sinnliche Wahrnehmung durch das soziale Miteinander organisiert ist und durch soziale Regeln strukturiert wird. Unter Bezugnahme auf die Interaktionstheorie Erving Goffmans (1983) soll die spezifische Struktur sinnlicher Ordnungen als soziale Organisation von Sinneswahrnehmungen und das Verhältnis von sinnlichen Wahrnehmungsprozessen und sozialer Ordnungsbildung herausgearbeitet werden. Empirisch steht die Frage im Zentrum, wie die Sinne in sozialen Interaktionen von (nicht-)hörbeeinträchtigen Personen im Vergleich zu (nicht-)sehbeeinträchtigten Beteiligten genutzt werden.

Um die Praxis der sinnlichen Wahrnehmung zu untersuchen, wird eine trianguläre Betrachtungsperspektive (vgl. Flick 2019) gewählt und es werden mittels teilnehmender Beobachtung, Gruppeninterviews und einer Autoethnographie empirische Daten erhoben. Ziel des Dissertationsprojekts ist es zu beleuchten, auf welche Weise Menschen in und durch Praktiken der sinnlichen Wahrnehmung soziale Beziehungen aufbauen und welche Rolle die Sinne in sozialen Interaktionen spielen. 

Literatur

Goffman, Erving. (1967[1963]). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main (Suhrkamp). 

Goffman, Erving, (1983): The Interaktion Order. American Sociological Association, 1982 Presidential Address. In: American Sociological Review 48. 1–17

Flick, Uwe / von Kardorff, Ernst / Steinke, Ines. (2019). Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick. In: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hrsg.). Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt). (13 Aufl.). S. 13-29.