Euro-Delphi

Projekte

 

Die Zukunft der Weiterbildung in Europa

Das Delphi-Projekt ist Bestandteil einer europäischen Forschungsinitiative (Euro-Delphi), mit der zentrale Parameter der Weiterbildungsversorgung (Ziele, Bedarfsorientierung, Innovationsoffenheit, Organisationsqualität, Kooperation etc.) im EG-Vergleich untersucht werden sollen.

Die mit einem großenteils standardisierten Erhebungsdesign arbeitende Untersuchung richtet sich an 426 Experten der deutschen Weiterbildung (Forscher, Praktiker, Bildungs-/ Verbandspolitiker) und wird im Rahmen einer Kombination von Befragung, Auswertung und Diskussionsrunden (modifizierter Delphi- Ansatz) Entwicklungsschwerpunkte und Strategieoptionen der europäischen Weiterbildungssysteme ermitteln. Das Projekt, das sich methodologisch als Beitrag zur Konstituierung einer vergleichenden Forschungsrichtung in der Weiterbildung versteht, ist auf zwei Jahre angelegt und wurde im September 1995 mit einem europäischen Weiterbildungskongreß in Leuwen (Belgien) abgeschlossen. Ein Abschlußbericht wird zur Zeit erstellt.

 

Ziele der Delphi-Untersuchung

Von Veränderungen zu sprechen und mit ihnen gewandelte Lernanforderungen zu begründen, gehört mittlerweile zur Normalausstattung der Weiterbildungsszene. Was sich in Europa seit 1989 verändert hat und in Frage gestellt wurde, paßt allerdings in vertraute Vorstellungen von Normalität nicht mehr hinein. Wie kann sich die Weiterbildung auf einen solchermaßen forcierten sozialen und politischen Wandel einstellen? Welche Lebensumstände und Lernerfordernisse gilt es zu berücksichtigen, welche Bildungsziele zu verfolgen? Wie sind die Strukturen der Weiterbildung auszubauen, um diesem Wandel adäquat begegnen zu können?

Die laufende Delphi-Untersuchung zielt darauf ab, die Situation in den Staaten der Europäischen Union sowie vier weiterer Länder anhand einer internationalen Expertenbefragung vergleichend zu erfassen und gemeinsame Perspektiven für die Zukunft zu entfalten.

Da eine flämische Ausgangsuntersuchung bereits wesentliche sachliche und methodische Hinweise zur konkreten Ausgestaltung dieses Delphi-Projektes liefern konnte, wurde in der vorliegenden europäischen Fassung auf die Einbeziehung der "problemidentifizierenden" Einstiegsrunden verzichtet und das thematische Material der Vorläuferstudie zugrunde gelegt. Ein solch verkürzter Durchlauf ist bereits im französischsprachigen Teil Belgiens durchgeführt worden, um die Gültigkeit der erzielten Problemformulierungen und Fragestellungen zu überprüfen und die Praktikabilität des Verfahrens für das europäische Projekt abschließend zu testen.

Ausgangslage und Forschungsinteresse der mit ca. 1500 Weiterbildungsexperten aus 14 europäischen Ländern durchgeführten Untersuchung lassen sich in vier Stichworten zusammenfassen.

  1. Sozialer und politischer Wandel: Welche Auswirkungen hat er auf die Ziele, Themen und Angebotsentwicklungen in der Weiterbildung?
  2. Ordnungspolitischer und rechtlicher Rahmen: Wie ist er auszugestalten, um die Zukunft der Weiterbildung im Zeichen sozialer Verantwortung und struktureller Leistungsfähigkeit zu sichern?
  3. Ansätze und Perspektiven einer vergleichenden Weiterbildungsforschung: Inwieweit kann die vorliegende Untersuchung zur Entwicklung von Modellen und Methoden kompara- tistischer pädagogischer Forschung beitragen, die sich in besonderer Weise eines praktischen Erkenntnisinteresses bedient?
  4. Europäische Dimension der Weiterbildung: Geben die Befunde der einzelnen Länder Anlaß zur Formulierung gemeinsamer Zielbestände und Optionen einer europäischen Weiterbildungspolitik, die den Abbau von Chancen- und Versorgungsungleichheiten fördert, ohne die politisch-kulturelle Eigenständigkeit von Regionen und Trägern zu gefährden?

Stichwort Delphi-Methode

Mit Anspielung auf das Orakel von Delphi, das zu Zeiten der Antike eine wichtige politische Entscheidungshilfe darstellte, entstand 1964 die Delphi-Methode als neuer Typus partizipativer Zukunftsforschung. Dieses ursprünglich für die Naturwissenschaften konzipierte Konsultationsverfahren unter Experten fand rasch in den unterschiedlichsten Bereichen Anwendung und erfuhr entsprechend auch vielfältige Modifikationen. In einer weitgefaßten Definition wird der Delphi-Ansatz als eine Methode bezeichnet, die den Verständigungsprozeß einer Gruppe strukturiert, d. h. sie stellt das Instrumentarium dar, das es einer Gruppe von Einzelvertretern ermöglicht, sich gemeinsam und effektiv mit einem komplexen Problem zu beschäftigen (Linstone/Turoff 1975). Im Rahmen dieser Definition lassen sich drei Idealtypen unterscheiden (Rauch 1979): Neben dem oben angesprochenen 'klassischen' Ansatz entstand eine 'politische' Delphi-Methode, die vor allem in den Sozialwissenschaften angewandt wird, und außerdem ein 'Entscheidungsdelphi', das versucht, auf die wahrscheinliche Entwicklung Einfluß zu nehmen und Entscheidungen zu forcieren (z. B. in der Raumplanung). In der Praxis handelt es sich jedoch immer um Mischformen. So ist etwa die vorliegende Studie eher dem Typus eines politikentwickelnden Delphi-Verfahrens zuzurechnen, bei dem es weniger um die bloße Konstatierung von Entwicklungstrends geht, sondern vielmehr darum, den Aufforderungsgehalt und die Gestaltbarkeit von Zukunft wahrzunehmen und handlungswirksam werden zu lassen. Allen Delphi-Methoden gemeinsam ist der systematische Prozeß von Befragung, Datenanalyse, Feedback, Diskussion und Entscheidung, der sich in der Regel über zwei bis drei Durchgänge erstreckt. Da die ursprüngliche flämische Untersuchung (Leirman 1992) bereits wesentliche sachliche und methodische Hinweise zur Ausgestaltung dieses Delphi-Projekts liefern konnte, handelt es sich bei der europäischen Fassung um einen gestrafften Ansatz, bei dem auf die 'problemidentifizierende' Einstiegsrunde verzichtet wurde. Bei der vorliegenden Studie ist die erste Runde mit der Beantwortung des Fragebogens abgeschlossen, so daß in der anstehenden zweiten Runde das partizipative Element dieser Forschungsmethode zum Tragen kommt. Speziell in den Arbeitsgruppen werden die Experten in den evaluativen und politikentwickelnden Umgang mit den ermittelten Forschungsergebnissen einbezogen. Dieses Verfahren soll jedoch nicht einer vorschnellen bzw. nicht hinreichend reflektierten Konsensbildung dienen, sondern vielmehr die Konfliktzonen und konkurrierenden Realitätsentwürfe und Handlungsinteressen sichtbar machen, die die gesellschaftliche Praxis Weiterbildung faktisch konstituieren.

 

Literatur

  • Linstone/Turoff, The Delphi Method-Techniques and Applications, Mass. 1975
  • Rauch, The Decision Delphi, München 1979
  • Leirman, Education '92: towards a needs covering offering and a better coordinated policy in the area of adult education, Leuven 1992