Mobilitätsassistenzen blinder Menschen und ihre Bedeutung in sozialen Interaktionen - eine vergleichende Analyse
Doktorandin: Natalie Geese
Teilhabe am Arbeitsleben und an Freizeitaktivitäten ist ohne unterstützende Technologien kaum denkbar. Computer und Smartphones gehören heute zum Alltag nahezu aller Menschen in Deutschland. Auch auf menschliche und tierische Hilfen wird häufig zurückgegriffen, wenn die Fähigkeiten des eigenen Körpers zur Bewältigung einer Aufgabe nicht ausreichen. Vor allem behinderte Menschen haben in den vergangenen hundert Jahren von den Entwicklungen auf dem Gebiet der assistiven Technologien profitiert. So sind blinde Menschen u.a. im Bereich der Mobilität auf Assistenz angewiesen. Hier können sie zwischen der menschlichen Begleitung, dem tierischen Hilfsmittel Führhund und der technischen Unterstützung Langstock wählen. Auch wenn diese Formen der Mobilitätsassistenz schon sehr lange von blinden Menschen genutzt werden - historisch können ihre Spuren teilweise bis in die Antike zurückverfolgt werden - sind die sozialen Aspekte ihrer Nutzung (z.B. die Wechselwirkungen zwischen blindem Mensch, Mobilitätsassistenz und in der Situation anwesenden Dritten) bislang kaum erforscht worden. Dabei scheinen diese Wechselwirkungen von zentraler Bedeutung zu sein. Erste Studien weisen darauf hin, dass die Zufriedenheit der Nutzer_innen mit ihrer Mobilitätsassistenz u.a. durch die Reaktionen Dritter beeinflusst wird (vgl. Shinohara/Wobbrock 2011). Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die Qualität einer Begegnung zwischen blinden und sehenden Menschen u.a. durch die in der Interaktionssituation anwesende Mobilitätsassistenz beeinflusst wird.
In meinem Dissertationsvorhaben möchte ich danach fragen, welche Bedeutung die Mobilitätsassistenzen blinder Menschen in sozialen Interaktionen haben. Wie werden welche Bedeutungen interaktiv hergestellt? Auf welche Weise werden die Mobilitätsassistenzen in Interaktionen einbezogen? Welche Informationen über ihre Nutzer_innen kommunizieren sie an Dritte? Das Promotionsprojekt zielt darauf ab, die „Interaktionsordnung" (Goffman 2001) innerhalb der heterogenen Triade (blinder und sehender Mensch plus entweder menschliche, tierische oder technische Mobilitätsassistenz) vergleichend für alle drei Formen der Mobilitätsassistenz herauszuarbeiten.
Methodisch erfolgt eine Anlehnung an das von Hubert Knoblauch entwickelte Konzept der fokussierten Ethnografie (vgl. Knoblauch 2001). In diesem Forschungsansatz sind bestimmte Aspekte innerhalb eines bestimmten Feldes (in meinem Fall Interaktionen in heterogenen Mensch-Assistenz-Triaden) von Interesse. Meine Daten erhebe ich u.a. mittels teilnehmender Beobachtung - im Rahmen von Selbstbeobachtungen der blinden Forscherin während der Nutzung der unterschiedlichen Mobilitätsassistenzen in ausgewählten Situationen. Des Weiteren werden thematisch relevante Erfahrungsberichte blinder Menschen aus dem Internet analysiert und problemzentrierte Interviews mit blinden Nutzer_innen zu ihren Erfahrungen mit den unterschiedlichen Formen der Mobilitätsassistenzen geführt. Die Auswertung des Datenmaterials erfolgt mit Hilfe der Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin 1996).
Literatur
Goffman, Erving (2001): Die Interaktionsordnung, in: Erving Goffman (Hg.), Interaktion und Geschlecht, Frankfurt am Main: Campus-Verlag, S. 50-104.
Knoblauch, Hubert (2001): Fokussierte Ethnographie: Soziologie, Ethnologie und die neue Welle der Ethnographie. In: Sozialer Sinn 1, S. 123-141.
Shinohara, Kristen/Wobbrock, Jacob O. (2011): In the shadow of misperception: assistive technology use and social interactions. In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems, New York, S. 705-714.
Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim: Psychologie Verlags Union.